In der Schweiz verfügt über ein Viertel der Bevölkerung über keinen Schweizerpass[1]. In der Stadt Basel, wo ich wohne, sind es sogar über ein Drittel (2020: 36.8%)[2]. Von den über zwei Millionen Personen ohne Schweizerpass sind über 170‘000 in der Schweiz geboren und über 15 Jahre alt.[3] Das sind gut 2% der Schweizer Bevölkerung.
Das müsste für sich genommen kein grosses Problem sein. Allerdings gehen damit leider schwerwiegende Einbussen für die politische Integration dieser Personen einher. Wohl am stärksten zeigt sich dies daran, dass sie in der Schweiz keinerlei politisches Mitbestimmungsrecht haben. Sie dürfen weder wählen noch gewählt werden, nicht abstimmen, keine Initiative lancieren und kein Referendum ergreifen. Damit fallen ihre Interessen für die politischen Entscheidungsträger kaum ins Gewicht und sie sind für die Politik und das in ihr vorherrschende Kalkül mehr oder minder belanglos.
Angesichts des grossen Anteils solcher politisch rechtsarmen Einwohner*innen kann man durchaus anfangen daran zu zweifeln, ob sich die Schweiz rechtmässig als Staat im Sinne der Idee einer liberalen Demokratie bezeichnen kann. Wie gross ist die demokratische Legitimität politischer Entscheidungen, bei denen über ein Viertel der direkt davon Betroffenen weder direkt noch indirekt darüber mitbestimmen darf. Es braucht daher eine ernsthaften Diskussion über ein Einwohner*innenstimmrecht. In dieser Blogreihe gehe ich auf einzelne Argumente für und wider ein solches Stimmrecht ein.
Meine Meinung dazu ist allerdings klar: Die Geschichte der Demokratie ist die Geschichte der Inklusion in die Gruppe der Entscheidungstragenden, der Ausweitung politischer Rechte auf mehr Leute und damit die Ausweitung individueller Selbstbestimmung im Rahmen einer sozialliberalen Gesellschaft. Im Kontext einer globalisierten Welt und des umfänglichen internationalen Austauschs und Verkehrs, ist die Ausweitung des Stimmrechts auf die ständige Einwohnerschaft eines Staates der nächste logische Schritt.
In diesem ersten Beitrag soll es um ein Argument gehen, das immer wieder gegen ein Einwohner*innenstimmrecht vorgebracht wird, nämlich das Gleiche-Rechte-Gleiche-Pflichten-Argument (GRGP-Argument). Wird über ein Stimmrecht für Leute ohne Schweizer Staatsbürgerschaft diskutiert, dauert es meistens nicht lange, bis eine Person in der Runde einwirft, dass die Leute sich einbürgern lassen sollen, weil sie damit die gleichen Pflichten wie andere Staatsbürger*innen hätten und somit auch einen Anspruch auf die gleichen Rechte geltend machen könnten. Für die gleichen Rechte muss man die gleichen Pflichten in Kauf nehmen.
Was zunächst wie ein angebrachtes Argument basierend auf einem prima facie gerechten Prinzip erscheinen mag, hat tatsächlich aber mehrere Ungereimtheiten:
Erstens sind Pflichten in einem Staat nie vollkommen gleich verteilt. Wollte man auf solch eine Gleichverteilung der Pflichten beharren, kämen Schlussfolgerungen dabei heraus, die kaum jemand unterstützen würde.
Zweitens haben Einwohner*innen ohne Staatsbürgerschaft in der Regel nicht weniger Pflichten als Staatsbürger*innen und
drittens hätten Staatsbürger*innen immer noch mehr Rechte als Einwohner*innen ohne Staatsbürgerschaft, selbst wenn man ein Einwohner*innenstimmrecht einführen würde.
Schauen wir uns zuerst die erste Ungereimtheit an: ,,Bürgerpflichten“ sind in den liberalen Gesellschaften der westlichen Demokratien ohnehin auf ein Minimum beschränkt.[4] Üblicherweise fallen darunter gewisse Dienst- und Zahlungspflichten. Typische Dienstpflichten sind die Wehrpflicht, die Zivildienstpflicht und selten noch so etwas wie Feuerwehrpflicht, Wahlhelferpflicht o.Ä.[5] Typische Zahlungspflichten sind die Steuerpflicht, die Sozialversicherungspflicht, die Krankenkassenpflicht u.Ä. Diese sind allerdings zumindest in der Schweiz schon seit jeher unterschiedlich verteilt. Die obligatorischen Dienstpflichten gelten bekannterweise nur für „Männer“[6]. Die Zahlungspflichten gelten zwar grosso modo für alle volljährigen Einwohner*innen, aber natürlich nicht im gleichen Umfang. Die selteneren Dienstpflichten wie Feuerwehrpflichten sind wiederum regional geregelt; Während ich in meinem früheren Wohnort noch eine Entschädigung für nicht geleisteten Feuerwehrdienst zahlen musste[7], fällt diese Entschädigung in Basel unter den Tisch.[8] Weniger Wahl- und Stimmrecht auf Bundesebene habe ich deswegen nicht.
Nun kann man zwischen Vertreter*innen des GRGP-Arguments unterscheiden, die der Meinung sind, dass alle genau im gleichen Umfang an Pflichten gebunden sein sollten oder lediglich, dass alle die gleichen Pflichten (aber womöglich in unterschiedlichem Umfang) haben sollten.
Erstere Version führt zu seltsamen Auswüchsen, die an einem Beispiel schnell erläutert sind: Zum einen müssten alle unabhängig von ihrem Einkommen gleich viele Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen und Leuten, die diese Beiträge nicht zahlen könnten, sollten gewisse Rechte entzogen werden. In Bezug auf das Stimmrecht wäre das die Einführung eines Zensuswahlrechts, das mit der Idee einer modernen liberalen Demokratie nichts zu tun hat.
In der zweiten Version spricht nichts gegen ein Einwohner*innenstimmrecht, aber die Vertreter*innen dieser Form des GRGP-Arguments handeln sich andere Dispute ein. Zunächst einmal müssten sie konsequenterweise fordern, dass Frauen ebenfalls eine Form der obligatorischen Dienstpflicht leisten müssten. Wenn das Stimmrecht an eine Form der Dienstpflicht gebunden ist, folgt im Umkehrschluss, dass Personen die keine Form der Dienstpflicht leisten, kein Stimmrecht haben sollten. Diese Konsequenz ist fraglos unhaltbar und die Dienstpflicht für Frauen ist immerhin noch eine stark umstrittene Forderung.[9] Solange die Vertreter*innen des GRGP-Arguments dabei ausserdem nicht auf die Form des Militärdienstes als einzige Möglichkeit zur Erfüllung der Dienstpflicht bestehen, spricht nichts dagegen, dass auch Einwohner*innen ohne Staatsbürgerschaft, denen das Stimmrecht verliehen wird, ebenfalls solch eine Pflicht erfüllen. Da es heute bereits möglich ist, einen Ersatzdienst zum Militärdienst zu leisten, spricht für Vertreter*innen des GRGP-Arguments überhaupt nichts gegen ein Einwohner*innenstimmrecht, solange damit die Pflicht für solch einen Ersatzdienst einhergeht.
Damit können wir uns der zweiten Ungereimtheit des GRGP-Arguments widmen: Es unterstellt indirekt, dass Einwohner*innen ohne Staatsbürgerschaft weniger Pflichten nachkommen würden als Staatsbürger*innen. Auch nur unter dieser Voraussetzung wäre es gerechtfertigt, das Einwohner*innenstimmrecht für Personen ohne Staatsbürgerschaft an einen zusätzlichen Dienst zu knüpfen. Die Vorstellung, dass Einwohner*innen ohne Staatsbürgerschaft in bedeutsamem Ausmass weniger Pflichten hätten als Staatsbürger*innen ist allerdings kaum haltbar. Auch sie sind steuerpflichtig[10], zahlen Sozialversicherungsbeiträge und unterstehen der Krankenkassenpflicht.[11] Zwar sind sie nicht wehrpflichtig oder anderweitig dienstpflichtig, aber auch die Mehrheit der Staatsbürger*innen leisten in Tat und Wahrheit keinen Militär- oder einen sonstigen obligatorischen Dienst. Das ist spätestens dann offensichtlich, wenn man die Wehrpflichtersatzabgabe nicht als Dienstpflichterbringung, sondern als weitere Zahlungspflicht ansieht, sowie Auslandschweizer*innen und eingebürgerte Personen, die zu alt waren für die Dienstpflicht, miteinschliesst. Zusätzlich unterstehen Leute ohne Staatsbürgerschaft wahrscheinlich mehr bürokratischen Zwängen als Personen mit Staatsbürgerschaft. Wenn es also so etwas gibt, wie eine Dienstpflicht bürokratischen Zwängen des Staates Folge zu leisten, dann erbringen Einwohner*innen ohne Staatsbürgerschaft mindestens genauso viel Pflichtleistung wie Staatsbürger*innen, die keine obligatorische Dienstpflicht erfüllen.
Hinzu kommt noch die dritte Ungereimtheit, nämlich dass Einwohner*innen ohne Staatsbürgerschaft ohnehin weniger Rechte haben als Einwohner*innen mit Staatsbürgerschaft. Das ist einerseits auf dem Papier so, andererseits sind sie auch im Alltag vermehrt Diskriminierung ausgesetzt.[12] Das heisst: Sie verfügen nicht nur rein formal über weniger Rechte trotz vergleichbarer Pflichten, sondern darüber hinaus werden ihnen in der Realität gewisse Rechte auch eher vorenthalten oder nicht in Tat und Wahrheit gewährt.
Daran würde sich auch nichts ändern, würde man ihnen ein Stimmrecht gewähren. Weder hätten sie dadurch andere Bürgerrechte erhalten (bspw. Recht nicht ausgewiesen oder ausgeliefert zu werden, ständiges Einreiserecht, konsularischer Schutz) noch wären damit alltägliche Diskriminierungen behoben.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das „Gleiche-Rechte-Gleiche-Pflichten“-Argument gegen ein Einwohner*innenstimmrecht an mindestens drei Stellen mangelhaft ist:
1. Es geht fälschlicherweise davon aus, dass die jetzigen Stimmberechtigten alle die gleichen Rechte und Pflichten hätten.
2. Es unterstellt, dass Einwohner*innen ohne Staatsbürgerschaft bedeutend weniger Pflichten hätten als Staatsbürger*innen. Diese Unterstellung ist kaum haltbar.
3. Es ignoriert, dass Einwohner*innen ohne Staatsbürgerschaft selbst mit einem Stimmrecht noch über weniger Rechte verfügen würden als Staatsbürger*innen und dies trotz vergleichbarer Pflichten.
Es zeigt sich also, dass anhand dieses Arguments die Ablehnung eines Einwohner*innenstimmrechts nicht begründbar ist. Die Einführung eines solchen Stimmrechts würde keineswegs zu einem ungerechten Ungleichgewicht in der Rechte-Pflichten-Verteilung unter den Einwohner*innen führen. Stattdessen könnte es das massive Fragezeichen auflösen, das über der demokratischen Legitimität politischer Volksentscheidungen in der Schweiz steht.
Fussnoten
[1] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/migration-integration/auslaendische-bevoelkerung.html (Die Funktionstüchtigkeit aller im Folgenden angegeben Links wurde zuletzt am 26.06.2021 überprüft). [2] https://www.statistik.bs.ch/haeufig-gefragt/einwohner/auslaender.html [3] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/migration-integration/nach-migrationsstatuts.html [4] Empfehlenswert dazu das Buch von Richard David Precht „Über die Pflicht“ oder die Sternstunde mit Precht: https://www.youtube.com/watch?v=NKG6IeWM_Rw. [5] Eine weitere, sehr selten anzutreffende und auch regional geregelte Bürgerpflicht, ist die Wahlpflicht, wie bspw. im Kanton Schaffhausen (Siehe die Schaffhauser Kantonsverfassung Art. 23(2): https://www.lexfind.ch/tolv/71244/de). [6] Die volljährigen Personen, die laut ihrem Eintrag im Personenstandregister männlichen Geschlechts sind. [7] Siehe Art. 3 Gesetz über die Feuerwehr der Stadt Chur: https://www.chur.ch/_docn/405091/441.pdf [8] Siehe §7 Gesetz betreffend die Feuerwehr des Kantons Basel-Stadt: https://www.gesetzessammlung.bs.ch/app/de/texts_of_law/590.100/versions/2382 [9] Die letztere grössere öffentliche Debatte darüber fand in der Schweiz 2016 statt: Siehe bspw. https://www.20min.ch/story/wehrpflicht-fuer-frauen-ist-blanker-hohn-321362516220 oder die Clubsendung (Schweizerdeutsch) auf SRF: https://www.srf.ch/sendungen/club/wehrpflicht-fuer-maenner-und-frauen [10] Art. 3 DBG: https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1991/1184_1184_1184/de [11] Vgl. https://www.ch.ch/de/sozialversicherungen-auslandische-personen/ [12] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/migration-integration/zusammenleben-schweiz/diskriminierung.html (Die häufigsten Diskriminierungserfahrungen werden aufgrund der Nationalität gemacht).
Weiterführende Literatur:
- Bauböck, R. (2015) Morphing the Demos into the right shape. Normative principles for enfranchising resident aliens and expatriate citizens, in Democratization 22, 820-839. Link: http://dx.doi.org/10.1080/13510347.2014.988146.
- Bauböck, R. (Hrsg.) (2018) Democratic inclusion, Manchester, England: Manchester University Press. Link: https://doi.org/10.7765/9781526105257.
- Beckmann, L. (2006), Citizenship and Voting Rights: Should Resident Aliens Vote?, in Citizenship Studies 10, 153-165. Link: https://doi.org/10.1080/13621020600633093.
- Dahl, R. A. (1998) On Democracy, New Haven, Conn.: Yale University Press.
- Goodin, R. E. (2007) Enfranchising All Affected Interests, and Its Alternatives, in Philosophy & Public Affairs 35, 40-68. Link: https://doi.org/10.1111/j.1088-4963.2007.00098.x.
- Groenendijk, K. (2008) Local Voting Rights for Non-Nationals in Europe: What We Know and What We Need to Learn, Washington, DC: Migration Policy Institute. Link: https://www.migrationpolicy.org/research/local-voting-rights-non-nationals-europe-what-we-know-and-what-we-need-learn.
- Groenendijk, K. (2014) Voting rights and political participation of non-national immigrants, in Focus Migration Policy Brief 26, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Link: https://hdl.handle.net/2066/139737.
- Scherz, A. (2013) The Legitimacy of the Demos: Who Should Be Included in the Demos and on What Grounds?, in Living Reviews in Democracy 4. Link: https://doi.org/10.5167/uzh-91127.
- Song, S. (2009), Democracy and noncitizen voting rights, in Citizenship Studies 13, 607-620. Link: https://doi.org/10.1080/13621020903309607.
- Song, S. (2012). The boundary problem in democratic theory: Why the demos should be bounded by the state, International Theory 4, 39-68.
Link: https://doi.org/10.1017/S1752971911000248.
- United Nations (1948) Universal Declaration of Human Rights.
- Whelan, F. G. (1983) Prologue: Democratic Theory and the Boundary Problem, in Nomos 25, 13-47. Link: https://www.jstor.org/stable/24219358.
- Widmer, P. (2019) Mehr Rechte für Ausländer in der Schweiz, weniger für Schweizer im Ausland, ein Beitrag auf swissinfo.ch. Link: https://www.swissinfo.ch/ger/politik/standpunkt_mehr-rechte-fuer-auslaender-in-der-schweiz--weniger-fuer-schweizer-im-ausland/45308006.
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