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  • Samuel Tscharner

Schweizer Einwohner*innenstimmrecht Teil 2 – Befürchtete Konsequenzen

Aktualisiert: 17. März 2022



In der Schweiz verfügt über ein Viertel der Bevölkerung über keinen Schweizerpass[1]. In der Stadt Basel, wo ich wohne, sind es sogar über ein Drittel (2020: 36.8%)[2]. Von den über zwei Millionen Personen ohne Schweizerpass sind über 170‘000 in der Schweiz geboren und über 15 Jahre alt.[3] Das sind gut 2% der Schweizer Bevölkerung.

Das müsste für sich genommen kein grosses Problem sein. Allerdings gehen damit leider schwerwiegende Einbussen für die politische Integration dieser Personen einher. Wohl am stärksten zeigt sich dies daran, dass sie in der Schweiz keinerlei politisches Mitbestimmungsrecht haben. Sie dürfen weder wählen noch gewählt werden, nicht abstimmen, keine Initiative lancieren und kein Referendum ergreifen. Damit fallen ihre Interessen für die politischen Entscheidungsträger kaum ins Gewicht und sie sind für die Politik und das in ihr vorherrschende Kalkül mehr oder minder belanglos.

Angesichts des grossen Anteils solcher politisch rechtsarmen Einwohner*innen kann man durchaus anfangen daran zu zweifeln, ob sich die Schweiz rechtmässig als Staat im Sinne der Idee einer liberalen Demokratie bezeichnen kann. Wie gross ist die demokratische Legitimität politischer Entscheidungen, bei denen über ein Viertel der direkt davon Betroffenen weder direkt noch indirekt darüber mitbestimmen darf. Es braucht daher eine ernsthaften Diskussion über ein Einwohner*innenstimmrecht. In dieser Blogreihe gehe ich auf einzelne Argumente für und wider ein solches Stimmrecht ein.

Meine Haltung dazu ist allerdings klar: Die Geschichte der Demokratie ist die Geschichte der Inklusion in die Gruppe der Entscheidungstragenden, der Ausweitung politischer Rechte auf mehr Leute und damit die Ausweitung individueller Selbstbestimmung im Rahmen einer sozialliberalen Gesellschaft. Im Kontext einer globalisierten Welt und des umfänglichen internationalen Austauschs und Verkehrs, ist die Ausweitung des Stimmrechts auf die ständige Einwohnerschaft eines Staates der nächste logische Schritt.




Dieser zweite Teil beschäftigt sich mit Einwänden gegen ein Einwohner*innenstimmrecht, die in erster Linie auf befürchtete Konsequenzen verweisen, die mit der Einführung eines solchen Stimmrechts einhergehen könnten.[4] Diese Einwände sind leicht vorgebracht, denn sie stützen sich allein auf Behauptungen über mögliche negative Zukunftsszenarien. Der Fantasie sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Vorgebrachte Befürchtungen sind beispielweise:

Wenn das Einwohner*innenstimmrecht eingeführt wird, dann…

  • … tragen die Ausländer*innen Konflikte aus ihrem Land in die hiesige Politik und gründen eigene Parteien.

  • … können fremde Regierungen Einfluss auf die hiesige Politik ausüben.

  • … verändern sie die kulturellen und politischen Gepflogenheiten.

  • … haben Ausländer*innen keinen Anreiz mehr sich einbürgern zu lassen.[5]

Das Schema dieses Vorgehens ist simpel: Man möchte nicht, dass ein Ereignis X in der Zukunft stattfindet, das durch Handlungen einer oder mehrerer Personen P herbeigeführt werden kann. Man verknüpft also mit dem X eine für P unerwünschte Konsequenz Y und behauptet, dass mit dem eintreten von X auch Y eintreten wird.

Im Wesentlichen sind diese Verknüpfungen empirische Hypothesen, die leicht überprüft werden könnten, in dem man beispielsweise das Einwohner*innenstimmrecht (X) einführt und beobachtet, welche Konsequenzen (Y) dabei tatsächlich herauskommen. Da man aber nicht riskieren möchte, dass die befürchteten Konsequenzen tatsächlich eintreten, verzichtet man darauf, die Hypothese zu überprüfen. Das ist zumindest die Hoffnung der Person, die die Behauptung aufstellt.

Was kann man also tun, wenn man eigentlich X für richtig hält, nichts gegen X auszusetzen hat oder sogar X tun bzw. herbeiführen möchte, aber die Hypothese im Raum steht, mit X würde die negative Konsequenz Y einhergehen? Man muss Argumente und Belege für oder wider die behauptete Verknüpfung von X und Y finden. Sicher sein, kann man nur bei einer direkten Überprüfung durch die Umsetzung von X, doch Argumente und Belege können die Verknüpfung plausibilieren oder unglaubwürdig machen. Das ist sicherlich nicht leicht, aber doch leichter in Fällen, wo Naturgesetzmässigkeiten die Vorhersage gewisser Szenarien mit relativ hoher Zuverlässigkeit ermöglichen, wie beispielsweise bei den prognostizierten Konsequenzen des Klimawandels. Die wissenschaftlichen Modelle und Untersuchungen lassen recht unumstösslich darauf schliessen, dass wir so rasch wie möglich etwas dagegen unternehmen sollten.

Im Fall des Einwohner*innenstimmrechts gibt es allerdings keine vergleichbaren Naturgesetzmässigkeiten. Allerdings gibt es Länder auf diesem Planeten, die das Einwohner*innenstimmrecht kennen und als Ansatzpunkt dienen können, um Belege für oder wider die Behauptungen zu finden. Bezüglich eines nationalen Stimmrechts gibt es derer vier, in denen es als Person ohne Staatsbürgerschaft möglich ist, ein politisches Mitspracherecht zu bekommen, nämlich Malawi, Chile, Uruguay und Neuseeland.[6] Die benötigte Aufenthaltsdauer als Bedingung für die Berechtigung schwankt dabei zwischen einem (Neuseeland) und acht bis 15 Jahren (Uruguay).[7]

Weitaus verbreiteter sind Länder mit lokalen Einwohner*innenstimmrechten. Allein in Europa gehören dazu: Belgien, die Niederlande, Dänemark, Luxemburg, Finnland, Schweden, Spanien, Portugal, Irland, das Vereinigte Königreich und die Schweiz.[8] Die Plausibilität der obigen Behauptungen gegen das Einwohner*innenstimmrecht kann also direkt durch Beobachtung überprüft werden und per Analogieschluss auf die gesamte Schweiz übertragen werden.

Natürlich kann man anführen, dass jedes Land verschieden ist und sich die Auswirkungen in einem Land nicht direkt per Analogieschluss auf ein anderes übertragen lassen. Wenn die Auswirkung allerdings in allen Fällen, im Ausland und sogar in der Schweiz selbst, in die gleiche Richtung deuten, dann verschiebt sich die Beweislast zu Ungunsten desjenigen, der den Analogieschluss anzweifelt. Er müsste ein klares analogiebrechendes Merkmal herausheben können, das begründet, weshalb die Auswirkungen in seinem Land anders sein sollten als in allen anderen.

Die Sorgen betreffend ein Einwohner*innenstimmrecht basierend auf Verknüpfungen mit negativen Konsequenzen mögen zwar Gründe gegen ein solches Stimmrecht sein, ob diese Sorgen berechtigt und die Gründe legitim sind, zeigt sich allerdings erst mit dem Blick auf die Länder, wo es bereits solch ein Stimmrecht gibt. Nur wenn die negativen Konsequenzen auch tatsächlich zu finden sind, sollten die Sorgen als legitime Gründe anerkannt werden.

Wie dem auch sei, es lässt sich eindeutig festhalten, dass sich keine dieser Behauptungen über negative Konsequenzen des Einwohner*innenstimmrechts in den europäischen Staaten bewahrheitet haben. Es zeigt sich bis anhin[9]:

  • Die Gründung von Ausländerparteien ist äusserst selten und diese bleiben auch entsprechend klein und ohne grösseren Einfluss.

  • Der Anteil an Ausländern, die in Ämter gewählt werden, nimmt zwar zu, bleibt allerdings klein und sie gehören vornehmlich zu bereits etablierten Parteien.

  • Eine nennenswerte Einflussnahme auf politische Prozesse durch andere Regierungen hat es bisher kaum gegeben. Im aufsehenerregendsten Fall im Jahr 1986 hielt der König von Marokko seine Staatsbürger dazu an, nicht an den Wahlen in den Niederlanden teilzunehmen. Das sorgte in dem Jahr für eine niedrige Wahlbeteiligung der Bevölkerung mit marokkanischem Pass. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass das die Form von Einflussnahme ist, vor der sich die Gegner*innen des Einwohner*innenstimmrechts fürchten.

  • Die Einführung des Einwohner*innenstimmrechts scheint die Anzahl Einbürgerungsverfahren weder positiv noch negativ zu beeinflussen. Das ist unabhängig davon, ob das Stimmrecht früher oder später zugesprochen wird.[10]

  • Weder kulturelle noch politische Verhältnisse scheinen sich auffällig stark zu verändern. Der Einfluss auf bestehende politische Machtverhältnisse hat sich bisher lediglich in einer Abstrafung von Rechts-aussen-Parteien bei Wahlen gezeigt, die mit starken Ressentiments gegen Ausländer Wahlkampf betrieben haben.

Diese Feststellungen sind zugegebenermassen nur für lokale Einwohner*innenstimmrechte innerhalb von europäischen Staaten (ohne Schweiz) gemacht worden. Es gibt allerdings keine Indizien anzunehmen, dass es sich bei den lokalen Einwohner*innenstimmrechten in der Schweiz anders verhalten würden; Die Berichterstattungen sind neutral bis positiv, es gibt Paper, die sogar auf positive Auswirkungen hindeuten[11] und aus politikphilosophischer Warte lässt sich ziemlich eindeutig festhalten, dass es der demokratischen Legitimität der Schweiz zuträglich wäre. Aber auch für das nationale Einwohner*innenstimmrecht in Neuseeland, wo man bereits nach einjährigem Aufenthalt stimmberechtigt ist, kann festgehalten werden, dass es seit seiner Einführung 1975 unumstritten ist und keine nennenswerten negativen Effekte für Neuseeland mit sich gebracht hat.[12]

Auf der Grundlage der angeführten empirischen Befunde, die es zu den auftretenden oder eher nicht auftretenden Effekten des Einwohner*innenstimmrechts gibt, dürfen die Behauptungen dagegen als unwahrscheinlich und die daraus resultierenden Sorgen als unbegründet angesehen werden.

So düster die Prognosen der Gegner*innen des Einwohner*innenstimmrechts für den Fall der Einführung eines solchen auch sein mögen, es gibt keinen guten Grund anzunehmen, dass ein Einwohner*innenstimmrecht in der Schweiz negative Konsequenzen mit sich bringen würde. Die einzige offensichtliche Folge wäre eine Sanierung der demokratischen Legitimität mittels politischer Einbindung des volljährigen Viertels der Bevölkerung, das bis jetzt davon ausgeschlossen wird.



Fussnoten

[1] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/migration-integration/auslaendische-bevoelkerung.html (Die Funktionstüchtigkeit aller im Folgenden angegeben Links wurde zuletzt am 15.08.2021 überprüft). [2] https://www.statistik.bs.ch/haeufig-gefragt/einwohner/auslaender.html [3] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/migration-integration/nach-migrationsstatuts.html [4] Ich habe dazu bereits ein Kapitel geschrieben in meiner Arbeit „Ein Plädoyer für ein Ausländerstimmrecht“ (Siehe hier). Dieser Beitrag kann als alternative Version des Kapitels angesehen werden. [5] Vgl. bspw. Groenendijk, K. (2008) Local Voting Rights for Non-Nationals in Europe: What We Know and What We Need to Learn, Washington, DC: Migration Policy Institute, S 5-6. Link: https://www.migrationpolicy.org/research/local-voting-rights-non-nationals-europe-what-we-know-and-what-we-need-learn. Łodziński S., Pudzianowska D. & Szaranowicz-Kusz M. (Hrsg.) (2014) Voting rights for foreigners – for or against? The analysis of the process of granting voting rights to third country nationals – selected examples from across the EU, published as part of the project “Analysis of migrants’ enfranchisement process by example of selected EU countries” by the International Organisation of Migration (IOM) and the Institute of Sociology of the University of Warsaw, S. 11. Link: https://www.researchgate.net/publication/313107320. [6] Huddleston, T. (2014) A question for referendum: should foreigners vote in national elections?, ein Blogeintrag im Blog of the Migrant Integration Policy Index (MIPEX-Blog). Link: http://www.mipex.eu/blog/?p=1720. [7] Siehe für Neuseeland: New Zealand Electoral Commission, Are you eligible to enrol and vote? Offizielle Informations-Website: https://vote.nz/enrolling/get-ready-to-enrol/are-you-eligible-to-enrol-and-vote/?gclid=CjwKCAjw26H3BRB2EiwAy32zhQHgq16HiV0_umDICkd-Uf62UZ0da4BMgF5t7iDoxUr7xNBAgaNtWRoC-ssQAvD_BwE. Siehe für Uruguay: Huddleston (2014) (siehe fn. 5), der von acht Jahren spricht, während in folgender Quelle noch von 15 Jahren die Rede ist: Earnest, D. C. (2003) Noncitizen voting rights: a survey of emerging democratic norms, paper presented at the American Political Science Association in Washington, DC. Link: https://www.researchgate.net/publication/228390357_Noncitizen_Voting_Rights_A_Survey_of_an_Emerging_Democratic_Norm/citations. [8] Groenendijk, K. (2014) Voting rights and political participation of non-national immigrants, in Focus Migration Policy Brief 26, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 4. Link: https://hdl.handle.net/2066/139737. Für einen raschen Überblick über lokale Stimmrechte in der Schweiz siehe: https://www.srf.ch/news/schweiz/debatte-um-auslaenderstimmrecht-in-diesen-gemeinden-duerfen-auslaender-abstimmen. Oder hier: https://www.watson.ch/schweiz/gesellschaft%20&%20politik/946789836-das-auslaenderstimmrecht-hat-in-der-deutschschweiz-einen-schweren-stand. [9] Groenendijk, K. (2014), siehe fn. 9. [10] Engdahl, M., Lindgren, K. & Rosenqvist, O. (2018) The role of local voting rights for foreign citizens – a catalyst for integration?, in Working Paper Series 2018 3, IFAU - Institute for Evaluation of Labour Market and Education Policy, S.35. Link: https://ideas.repec.org/p/hhs/ifauwp/2018_003.html. [11] Vgl. z.B. Koukal, A. M, Portann, M. (2020). Political integration of foreigners: How does foreigners suffrage impact natives' attitudes?, CREMA Working Paper No. 2020-05, in CREMA Working Papers Series, Center for Research in Economics, Management and the Arts (CREMA). Link: http://hdl.handle.net/10419/225547. [12] Barker F. & McMillan K. (2014) Constituting the Democratic Public: New Zealand's Extension of National Voting Rights to Non-Citizens, in New Zealand Journal of Public and International Law 12, S. 79-80. Link: https://papers.ssrn.com/abstract=2446466.

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