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  • Samuel Tscharner

Ethische und Rechtliche Vergehen Russlands im Ukraine-Krieg

Aktualisiert: 16. März 2022


Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist bereits über zwei Wochen her, der Krieg nimmt immer schlimmere Ausmasse an und das damit einhergehende Leid ist kaum zu beschreiben. Wenigstens ist der Westen mittlerweile in vielen Hinsichten über seinen Schatten gesprungen, hat ernstzunehmende Sanktionen erlassen und zeigt sich nach sieben Jahren äusserst misanthropischer Flüchtlingspolitik nun wenigstens gegenüber Flüchtenden aus der Ukraine solidarisch. Hier könnte ich jetzt abbiegen und darüber schreiben, dass Europa bedauerlicherweise immer noch nicht endgültig mit seiner Energieabhängigkeit von Russland bricht, dass man blödsinnigerweise wieder anfängt Aufrüstungs- und Eskalationsrhetorik zu fahren oder dass die unterschiedliche Behandlung der ukrainischen Flüchtlinge den immer noch tiefsitzenden Rassismus in westlichen Ländern nun für alle Augen sichtbar an die Oberfläche kehrt. Doch in diesem Beitrag möchte ich mich auf die Verfehlungen Russlands konzentrieren. Es braucht keinen Ethiker und keinen Gelehrten des internationalen Rechts, um festzustellen, dass Russland in diesem Konflikt moralische und rechtliche Schuld auf sich lädt. Nichtsdestotrotz könnte es von Interesse sein, einmal eine konkrete Aufstellung zu machen, inwiefern Russland internationales Recht und moralische Prinzipien verletzt. Dabei soll kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden.


Im Kriegsrecht[1], aber auch in der Kriegsethik, wird zwischen zwei Mengen von Prinzipien unterschieden. Die eine Menge, genannt Jus ad Bellum, beschäftigt sich mit dem Recht zum Krieg. Darin wird geregelt, unter welchen Bedingungen ein Staat legitimerweise an einem Krieg beteiligt sein kann. Die zentralen rechtlichen Kodifizierungen dazu finden sich in der Charta der Vereinten Nationen.[2] Die andere Menge regelt das Jus in Bello, also wie innerhalb eines bestehenden Krieges gekämpft werden soll. Hier findet sich die zentralen Reglungen im humanitären Völkerrecht, genauer gesagt in den Genfer Konventionen von 1949 und ihren Zusatzprotokollen von 1977. [3]

Im internationalen Recht sind diese beiden Mengen von Prinzipen mehr oder weniger unabhängig voneinander. Ein Staat, der Jus ad Bellum verletzt und illegal einen Krieg beginnt, muss sich genauso an das Jus in Bello halten, wie der Staat der angegriffen wird. Das heisst, auch ein Staat der einen illegitimen Krieg führt, kann diesen auf legitime Weise führen, solange er sich an Jus in Bello hält. Diese geltende rechtliche Ansicht wurde lange auch von ethischen Argumenten gestützt, insbesondere in Michael Walzers Just and Unjust Wars von 1977.[4] Heutzutage gibt es eine starke Tradition innerhalb der Kriegsethik, angefangen mit Jeff McMahan[5], die diese Sicht grundlegend infragestellt: Wer einen illegitimen Krieg führt, führt diesen auch zwangsweise auf illegitime Weise. Im vorliegenden Fall von Russland spielt diese Frage allerdings keine wesentliche Rolle mehr, denn mittlerweile ist vollkommen klar, dass Russland sich weder an die Prinzipien des Jus ad Bellum, noch an diejenigen des Jus in Bello hält. Im Folgenden soll kurz erklärt sein, welche Bestimmungen (u.a.) aus diesen Mengen betroffen sein dürften.


Jus ad Bellum. Die zentralen Bestimmungen für das Jus ad Bellum findet sich in der UNO-Charta. Das bekannte Aggressionsverbot in Art. 2(4) verbietet die Anwendung von militärischer Gewalt zwischen Staaten. Mit seinem Einmarsch in die Ukraine hat Russland dieses sowohl rechtlich als auch ethisch unumstrittene Verbot verletzt. Zwar hat Russland versucht dem Ganzen zumindest ansatzweise einen legitimen Anstrich zu verpassen, aber die Entschuldigungen Russlands sind, egal wie man es dreht und wendet, gelinde ausgedrückt hanebüchen. Es gibt im Jus ad Bellum zwei Rechtfertigungen für die Teilnahme an einem bewaffneten Konflikt. Beide hat Russland versucht, beide sollten nicht haltbar sein. Zum einen ist da das in Art. 51 UNO-Charta kodifizierte Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung. Um diese Rechtfertigungsschiene zu fahren, hat Russland zuerst die beiden Donbas-Regionen als eigenständige Staaten anerkannt. Diese hätten dann als eigenständige Staaten von ihrem Recht auf kollektive Selbstverteidigung Gebrauch machen können, um Russland legitimerweise in den Konflikt zu involvieren. Diese Strategie funktioniert aus mehreren Gründen nicht. Zum einen werden diese beiden Regionen nicht automatisch zu legitimen Staaten, die sich auf internationales Recht berufen können, nur weil Russland diese anerkennt. Sie müssten allerdings legitime Staaten sein, um sich auf ein Recht auf kollektive Selbstverteidigung berufen zu können. Zum anderen existiert die durchaus plausible Ansicht, dass diese beiden Regionen schon seit Beginn des Konflikts im Jahr 2014 von de facto-Organen Russlands gelenkt wurden. Damit wäre Russland bereits seit 2014 im Krieg mit der Ukraine im Donbas (wegen der Krimannexion war das Russland ohnehin) und hätte jetzt im Februar 2022 den Krieg lediglich offiziell zugegeben.

Die zweite Rechtfertigung ist diejenige einer humanitären Intervention mit militärischen Mitteln wie dies insbesondere in den Art. 41-43 UNO-Charta geregelt ist. Allerdings ist das eine Massnahme, die vom UNO-Sicherheitsrat beschlossen werden muss. Rein rechtlich gesehen, fällt diese Rechtfertigung für Russland also ebenfalls ins Wasser. Es beruft sich dabei auf die Konvention gegen Völkermord von 1948.[6] Neben dem, dass die Bezichtigung der Ukraine des Völkermords mit ziemlicher Gewissheit jeder Grundlage entbehren und momentan auf Gesuch der Ukraine vom Internationalen Gerichtshof untersucht wird, verlangt auch diese den Weg über den UNO-Sicherheitsrat für eine humanitäre Interaktion. Aus ethischer Warte ist ein gerechter oder moralisch legitimer Grund (just cause) eine notwendige Bedingung für die legitime Teilnahme an einem bewaffneten Konflikt.[7] Es könnte also theoretisch (aber auch bestrittenermassen) moralisch legitime humanitäre Interventionen geben, die nicht vom UNO-Sicherheitsrat abgesegnet sind.[8] Hier spielt das allerdings keine Rolle, denn für Russland gibt es keinen ersichtlich gerechten Grund für diesen Angriff. Daher hat Russland gegen Jus ad Bellum sowohl aus ethischer als auch aus rechtlicher Perspektive verletzt.


Jus in Bello. Gemäss der ethischen Position, welche die Unabhängigkeit von Jus ad Bellum und Jus in Bello zurückweist, begeht Russland mit jedem Tod und jedem anderweitigen Schaden, den es in diesem Krieg herbeiführt ein moralisches Verbrechen. Für einen ungerechten Krieg gibt es keine gerechten Mittel. Diese Ansicht vertreten beispielsweise die Philosophinnen Helen Frowe und Jovana Davidovic in ihren Beiträgen bei DailyNous.[9]

Nach internationalem Recht und der es stützenden ethischen Tradition hätte Russland zwar Jus ad Bellum verletzt, aber bezüglich Jus in Bello unschuldig bleiben können. Mittlerweile werden von Russland allerdings eklatante Kriegsverbrechen[10] begangen und damit macht es sich wiederum sowohl moralischer als auch rechtlicher Vergehen schuldig. Ich möchte hier nur einige Beispiele nennen anhand des ersten Zusatzprotokolls zu den Genferkonventionen (ZPI), das Russland ebenfalls ratifiziert hat[11] und Vorfällen, die man aus den Nachrichten vernommen hat.

Eine der wichtigsten Bestimmungen des Jus in Bello ist das Unterscheidungsprinzip (principle of distincion) (Art. 48 ZPI) und das daraus hervorgehende Verbot unterschiedsloser Angriffe (indiscriminate attacks) (Art. 51(4) ZPI). Das Unterscheidungsprinzip verlangt, dass Angriffe nur gegen (legitime) militärische Ziele durchgeführt werden. Unterschiedslose Angriffe sind derart, dass sie nicht zulassen, zwischen legitimen und illegitimen Zielen zu unterscheiden oder bei der Gewaltanwendung gegen ein legitimes Ziel unverhältnismässig viel Kollateralschaden anrichten. Als russisches Militär in den ersten Tagen des Krieges gezielt gegen Flughäfen und Militärbasen vorging, war noch zu argumentieren, dass sie sich im Rahmen dieses Prinzip bewegten. Denn auch zivile Flughäfen können unter Jus in Bello legitime militärische Angriffsziele sein, weil sie zu militärischen Handlungen beitragen können und ihre Zerstörung einen effektiven militärischen Vorteil mit sich bringt (Art. 52 (2) ZPI). Dies gilt allerdings nur, solange die Kollateralschäden nicht exorbitant im Vergleich zum militärischen Vorteil sind. Mit den Bombardierungen von Städten und Wohnquartieren wird offensichtlich gegen diese Prinzipien verstossen.[12] Des Weiteren sind bspw. Kulturstätten vor Angriffen zu schützen (Art. 53 ZPI). Die Raketenangriffe, welche das Holocaust-Denkmal «Babyn Jar» zerstörten,[13] verstiessen klar gegen diese Regel.

Der Beschuss von Atomkraftwerken, wie beispielsweise bei Saporischschja,[14] steht im direkten Widerspruch mit dem Schutz von «Anlagen, die gefährliche Kräfte enthalten» (Art. 56 ZPI).

Die Belagerung von Mariupol,[15] die Zerstörung der lebensnotwendigen Infrastruktur und die Aushungerung der Zivilbevölkerung ist in Art. 54 ZPI ausdrücklich verboten. Das sind alles nur Verbote, die die Zivilbevölkerung betreffen. Geschützt sind auch Journalisten, medizinisches Personal, Einrichtungen oder Fahrzeuge, geistliche Personen und Einrichtungen, sowie verletzte, kranke, sich ergebende oder gefangene Soldaten (Art. 12, 13, 15, 21, 41, 79 ZPI). Die ständigen Versäumnisse zur Einrichtung humanitärer Korridore[16] könnte zudem als Verletzung von Art. 81 ZPI gewertet werden, der dem Roten Kreuz und anderen humanitären Organisationen die ungehinderte Durchführung ihrer Arbeit erlaubt.


Es wird eine gründliche Aufarbeitung all dieser Gräueltaten brauchen und letztlich werden erst detaillierte Untersuchungen zeigen, welcher moralischer und rechtlicher Vergehen sich Russland und seine Verantwortungsträger schuldig gemacht haben. Allerdings dass sie das getan haben, das dürfte unbestritten sein und zwar auf jeder Ebene des Kriegsrechts und der Kriegsethik und unabhängig von der vertretenen Position innerhalb kriegsethischer Debatten.



Bemerkungen [1] Korrekter wäre die Bezeichnung «Recht des bewaffneten Konflikts», im Englischen «law of armed conflict» genannt, da man in der Fachdiskussion heute primär von bewaffnetem Konflikt spricht. Der Leserlichkeit halber unterlasse ich diese formale Unterscheidung. Diese hat rechtsgeschichtliche Hintergründe. Kurz, Krieg war etwas, das offiziell von Staaten erklärt wurde. Nachdem man Krieg durch internationale Abkommen Anfang des 20. Jahrhunderts illegalisierte, unterliessen Staaten offizielle Kriegserklärungen, fochten jedoch weiterhin bewaffnete Konflikte. Aus diesem Grund führte man nach dem zweiten Weltkrieg den Begriff des bewaffneten Konflikts ein, der ein objektiver Tatbestand bezeichnete und an keiner staatlichen Formalität hing. [2] UNO-Charta: https://unric.org/de/wp-content/uploads/sites/4/2020/01/charta-1.pdf [3] Direkte Links zu deutschen Versionen dieser Texte finden sich hier: https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/aussenpolitik/voelkerrecht/humanitaeres-voelkerrecht/genfer-konvention.html. [4] Walzer, M. (2015). Just and unjust wars (5th ed.). Basic Books. [5] Vgl. bspw. McMahan, J. (2006) The Ethics of Killing in War. Philosophia 34, 23–41. https://doi.org/10.1007/s11406-006-9007-y. [6] Siehe für deutsche Übersetzung des Texts: https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/1999/1_5359_4942_4641/de. [7] Vgl. Lazar, S. (2020) War. In Edward N. Zalta (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy. https://plato.stanford.edu/archives/spr2020/entries/war. [8] Vgl. Dobos, N. (2010). Is U.N. Security Council Authorisation for Armed Humanitarian Intervention Morally Necessary?. Philosophia 38, 499–515. https://doi.org/10.1007/s11406-009-9233-1 oder Kling, Jennifer (2018). Humanitarian Intervention and the Problem of Genocide and Atrocity. In Andrew Fiala (ed.), The Routledge Handbook of Pacifism and Nonviolence. London, UK: Routledge. 327-346. [9] https://dailynous.com/2022/03/02/philosophers-on-the-russian-attack-on-ukraine/ [10] Der Begriff der Kriegsverbrechen ist hier relativ breit gemeint, als Verstoss gegen humanitäres Völkerrecht. Ein engeres strafrechtliches Verständnis des Begriffs würde sich auf Verbrechen nach Art. 8 des Römer-Statuts beschränken. W$hrend im Völkerstrafrecht Individuen zu Verantwortung gezogen werden, werden im humanitären Völkerrecht in erster Linie Staaten für die Einhaltung verantwortlich gemacht. [11] Im Gegensatz zu den USA by the way. [12] Vgl. https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_91811338/news-zum-ukraine-krieg-russland-wirft-ukraine-massenmord-vor.html. Vgl. https://www.aargauerzeitung.ch/international/kriegs-bulletin-putins-vernichtungskrieg-beginnt-russland-bombardiert-wohngebiete-so-ist-die-lage-heute-mittag-ld.2257885?reduced=true. [13] Vgl. https://www.n-tv.de/politik/Selenskyj-Russland-will-Ukraine-ausloeschen-article23166839.html. [14] Vgl. https://www.n-tv.de/politik/Kiew-bittet-NATO-nach-AKW-Brand-um-Hilfe-article23171978.html. [15] Vgl. https://www.nbcnews.com/news/world/mariupol-suffers-siege-russia-ukraine-war-goes-rcna19454. [16] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-krieg-evakuierung-mariupol-101.html.

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