Mittlere Brücke - Teil 1 von 7 - Robin
- Samuel Tscharner
- 18. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Apr.

1
Robin atmete tief ein. Frische Luft streichelte seine Nasenflügel, strömte in seine Lungen, weitete seinen Brustkorb und floss warm aus seinem Mund wieder ins Freie. Irgendwo kreischten die letzten noch anwesenden Möwen vor ihrer Heimkehr nach Norden. Der Frühling endete bald, doch wenn er seinen Fuss auf die Brücke setzte, würde sein persönlicher Frühling kommen. Das nahm er sich vor. Davon war er überzeugt. Sobald er den Rhein überquert hatte, würde er voll und ganz Schriftsteller sein.
Nicht weit vor ihm reckte sich die bronzene Basler Amazone still und erhaben in die Höhe, während sich neben Robin ein Tram zum Stillstand quietschte. Menschen tingelten aneinander vorbei in den frühen Feierabend. Ein Gewusel, das ihn üblicherweise überforderte. Dann zerrten die Geister der Vergangenheit an allen Fasern seines Körpers, liessen seinen Burstkorb und seine Gesichtszüge verkrampfen, sein Herz schneller Schlagen und vergegenwärtigten ihm, wie verletzlich, langsam und unfähig er war. Er kannte diesen Zustand und lebte damit schon seit Jahren. Das war normal.
Doch heute umarmte ihn die Welt. Ein Fahrradkurier in Neonfarben trampelte emsig dem Wochenende entgegen. So wünschte es ihm Robin zumindest. Sah ihm kurz nach, warf einen Blick auf das stehende Tram, und überquerte im Sichtfeld der stämmigen Amazone die Strasse. Er liess die Wächterin hinter sich, so als wolle er ihr aus dem Weg gehen und zögerte den Gang auf die Brücke noch einen Moment hinaus.
Es gab keine Gründe zu zweifeln mehr. Die flüchtigen Bilder, die unzähligen Fetzen an Formulierungen und Gesprächen, die schlummernden Gefühle, die Schemen eigenwilliger Charaktere; heute waren sie das erste Mal greifbar geworden. Sie hatten sich verdichtet zu einer handfesten Geschichte. Jene Geschichte, die er als waschechter Autor in seinem Debütroman erzählen würde. Ja, der heutige Tag hatte es ihm glasklar bewiesen: Seine Entscheidung war kein Wahnwitz gewesen, sondern Mut.
Er lächelte und fühlte sich leicht.
Es war jetzt so weit. Vor ihm erstreckte sich die Mittlere Brücke. Nachklänge eines Akkordeonspiels verebbten im strahlenden Sonnenschein, der auf den grauen Asphalt prallte.
Sonst war dies sein farbloser Nachhauseweg. Jetzt erkannte er darin seine Passage der Verwandlung, sein persönlicher Bifröst in die ersehnte Welt der Literatur und Schriftstellerei. Langsam nahm er nochmals einen bewussten Atemzug (Kühl ein… Warm aus.) und setzte sich mit zügigen Schritten in Gang.
Nichts Spezielles geschah. Zumindest nichts Sichtbares. Er war einer von hunderten jungen Männern, die diese Brücke jeden Tag zu Fuss passierten. Für alle Anwesende mochte es ein Tag sein wie jeder andere. Einer der letzten angenehmen Frühlingstage, bevor die sommerliche Hitze die kühlen Brisen im Rhein ertränkte. Doch in Robin kribbelte die Euphorie.
Beherzt führte er seine Finger zu den Handgelenken, dann zum Hals und verlängerte sie schliesslich vor seinem inneren Auge, bis sie an seine Knöchel reichten. Mit entschlossenem Ruck riss er sich die Ketten vom Leib. Sein Herzschlag beschleunigte, doch fühlte sich nicht bedrohlich an. Die Angst blätterte wie alte, trockene Haut von ihm ab und landete auf dem Beton unter seinen Füssen und mit jedem neuen Aufsetzen seiner Fersen, blühte die Fantasie in ihm auf.
Intuitiv wich er den entgegenkommenden Passanten aus. Er nahm sie kaum wahr, doch sie wirkten zufrieden. Wohlwollend. Bei der kleinen Kapelle posierten Touristen und schossen Fotos. Fern vor ihm jubelte eine Frau. Sie schrie etwas von Freiheit. Und obschon er sie kaum verstand, galt der Jubel ihm. Seiner Freiheit und seinem Mut.
Lange genug hatte er den Stimmen der Nein-Sager Macht verliehen. Hatte sich ihre Ketten angelegt, ihre Stimmen in seinem Kopf mit sich herumgetragen, seine Ideen von ihnen bis zur Unkenntlichkeit zerdenken lassen, bis sie sich in Ohnmacht und Kummer auflösten. Alle diese Ketten liess er nun los. Liess die daran zerrenden Stimmen nach hinten fallen, eine nach der anderen über das steinerne Brückengeländer. Die alte, bösartige Lehrerin mit dem rauchigen Mundgeruch und ihren schmierenden Rotstiften, die Sicherheit predigende Mutter mit den sorgenvollen Augen, der Forderungen kauende Vater mit den zornigen Stirnfalten, die schmunzelnden Freunde mit den flapsigen Kommentaren, seine verflossene Liebe mit den mitleidigen Floskeln, und zu guter Letzt sein Vorgesetzter mit diesem schäbigen Grinsen, das er zu lange als Gutmütigkeit interpretiert hatte. Natürlich habe er ihm versprochen, sein Pensum nach einem Jahr zu kürzen, um sich dem Schreiben zu widmen. Natürlich sei nun viel mehr Zeit vergangen. Natürlich müsse man aber sehen, dass diese Arbeit wenigsten ein sicheres Einkommen biete, was Künstler natürlich selten hätten. Ausserdem dürfe man natürlich die Kollegen nicht einfach so hängen lassen. Und schliesslich könne man natürlich nach der Arbeit schreiben, wenn die Leidenschaft tatsächlich so gross sei, wie man behaupte. Denn natürlich reichte es allen anderen Menschen ebenfalls ihrem Hobby und ihren infantilen Träumen nach der Arbeit nachzugehen.
Robin lächelte, doch die Brücke verschwamm in seinen Tränen. Das Tram kroch nun an ihm vorbei. Wie ein dumpf grollendes Fabelwesen überquerte es die Brücke, und wies ihm den Weg. Bunte, schlaff im Wind hängende Fahnen, flankierten seinen Übergang wie königliche Spaliere und an ihnen vorbei fielen sie nun alle gemeinsam. Gemeinsam mit seinem alten Ich stürzten sie von der Brücke, hindurch durch den lautlos daher treibenden Rhein in die dunkle Vergessenheit unter dem Bifröst und die letzten Möwen lachten laut, während das wohlige Feuer der Überzeugung in ihm züngelte.
Die Kündigung lag nicht lange zurück, die Reaktionen aus dem Umfeld waren entmutigend bis erniedrigend gewesen. Dennoch hatte er seither jeden Tag geschrieben. Krampfhaft, harzig, Satz für Satz, Buchstabe für Buchstabe begann die Quelle der Kreativität wieder zu tröpfeln. Und heute, als er so in der Bibliothek gesessen hatte, mit dem Blick im Schleier der Vorstellungen versunken, brach der Wall in ihm auf. Inspiration durchflutete ihn und daraus empor tauchte eine neue Welt und öffnete ihre Tore. Zeichen für Zeichen floss die Geschichte durch seine Finger, ergoss sich schwungvoll auf das digitale Weiss und formte eine Welt voller Feuer, Feingefühl und Freude.
Nie war Robin zufriedener gewesen in seinem Leben als heute, als er die Bibliothek verliess und heimwärts spazierte. Er war von der Gewissheit erfüllt, dass er seinen Traum würde leben können und würde nie wieder daran zweifeln. Und so vergewisserte er sich nun, nur wenige Augenblicke vor dem Kleinbasler Ufer seiner kettenfreien Glieder, wischte sich die Tränen aus den Augen und horchte mit einem gelösten Gefühl in den weitläufigen Raum hinein, den die negativen Stimmen in ihm freigegeben hatten. Dann klopfte er sich schmunzelnd auf die Schulter und betrat leicht wackelig, aber bestimmt neuen Boden. Dabei atmete er bewusst ein. Und wieder aus.
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