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Mittlere Brücke - Teil 3 von 7 - Erhardt

  • Samuel Tscharner
  • vor 6 Tagen
  • 5 Min. Lesezeit

BILD_Titelbild_Mittlere Brücke




3

 


Erhardt registrierte die Trägheitskraft kaum, durch die er sanft nach vorne rutschte. Erst das bösartige Zwicken im Rücken riss ihn ruppig aus seinem Grübeln und zwang ihn dazu, sich wieder aufrecht hinzusetzen. Das Tram kam zum Stehen, rappelnd schoben sich die Türen auf.

     «Diese entsetzlichen Holzsitze!» grummelte er lautlos, als noch mehr Menschen zustiegen. Heute machte wohl wirklich jeder früh Feierabend. Nur sein Sohn Stephan schaffte es vermutlich nicht an diesem Tag.

     Doch er selbst hatte damals schliesslich ebenfalls froh sein können, wenn der Freitag das Ende seiner Arbeitswoche bedeutete. Sachte drückte Erhardt die Tasche auf dem Sitz neben sich zurück an die Lehne und zupfte ziellos an der weinroten Decke herum, die daraus hervorlugte.

     «Entschuldigung, dürfte ich mich hinsetzen?», drang eine missmutige Frauenstimme an sein Ohr.

     Doch Erhardt tat nicht dergleichen. Man sah doch, dass er diesen Platz benötigte. Die Stimme klang entfernt, jung und selbstgefällig; so jemandem hatte ein wenig Stehen noch nie geschadet. Unbeteiligt starrte er über seine Tasche auf dem Fensterplatz hinweg auf das Treiben an der Schifflände: Familien mit herumtollenden Kindern, ein Haufen asiatischer Touristen – die gefühlt jedes Jahr mehr wurden –, unzählige junge Menschen, die zügellos in den Feierabend steuerten, ausländische Handwerker, die ihre Werkzeuge einluden, eine Gruppe mondäner Geschäftsleute auf ihrem Weg zum Trois Rois. 

     Die Stimme bohrte noch einmal nach. Gedankenverloren zupfte er weiter an der Decke herum und ein Fahrradkurier in leuchtendem Pink zischte am Fenster vorbei. Sogar ein Finger tippte nun an seine Schulter, die Stimme wurde lauter «Hallo! Entschuldigung!», doch Erhardt wollte sie nicht hören. Erst als das Tram wieder Fahrt aufnahm, entfernte sich die Stimme, ohne dabei auf ungehaltene Beleidigungen zu verzichten.

     Erhardt kümmerte sich nicht darum. Er brauchte diesen Platz. Offensichtlich brauchte er diesen Platz. Das musste man doch sehen.

     Vielmehr überlegte er, ob Stephan am Telefon die Lage richtig verstanden hatte. Dass er ernsthaft nicht kam, konnte schliesslich nicht sein. Es wäre einfach… bösartig!?

     Nein, das nicht gerade, aber vielleicht...

Skandalös!? Bodenlos!? Unerhört!? Einfach nur frech?! Oder Tragisch?! Es spielte keine Rolle.

     Traurig seufzte er. Vielleicht hatte er zu fest rumgedruckst am Telefon, hatte die Situation ungenügend erklärt. Wie sollte man auch darüber sprechen? Trotz seines Alters, trotz der sich häufenden Betroffenheit von Freunden, Bekannten und entfernten Verwandten, wusste Erhardt es nicht. Sollte er ihn nochmals anrufen?

     «Nächster Halt: ‘Rheingasse’», erklang die robotische Ansage.

     Rasch schaute er auf zur Anzeige. Noch fehlte seine Haltestelle und machte ihm eine trügerische Ferne vor, die er sich innigst ersehnte. Wie so oft in den letzten Wochen. Doch schon bei der Messe würde sie auf dem Monitor auftauchen: 4‘ - Hirzbrunnen/Claraspital.

     Seine Magengegend verkrampfte und er grub sich unruhig in den glatten Sitz, der ihn prompt mit einem weiteren Stich in den Rücken bestrafte.

     Vor dem Fenster schlenderten die Basler über die Mittlere Brücke, während vereinzelte gehetzte Zeitgenossen gezielt durch die Lücken zwischen ihnen hindurchschossen, um sich den schnellstmöglichen Weg auf die andere Seite zu bahnen. Bei solch traumhaftem Wetter, wo die Sonne mausbeinallein aus dem stahlblauen Himmel strahlte, klebten die Blicke der jungen Menschen an ihren Telefonen oder ihre Köpfe eiferten der Arbeit nach. Man müsste die eigene Zeit bereits im jungen Alter mehr zu schätzen wissen und einen prächtigen Tag wie diesen ausgelassen geniessen können, gerade in einem wunderbaren Land wie der Schweiz. Wie diese alte Frau dort mit den schlohweissen Haaren, die gerade am Fenster vorbeizog. Sie hockte da auf der Brücke und schien die Frische des Augenblicks regelrecht aufzusaugen. Doch manche Menschen wie Stephan mussten eben arbeiten, und auch er hatte viel Zeit bei der Arbeit verbracht.

     Immerhin konnte er Rosa noch ihre Decke bringen, die sie bis zur Nasenspitze zog, wenn sie sich an kühlen Tagen in sie einwickelte. Bestimmt würde sie sich freuen, wenngleich die Schmerzen und Medikamente ihr kaum gestatteten, dies zu zeigen. Doch obschon ihre Augen wässriger, ihr Gesicht fahler, ihre Züge träger geworden waren, bewahrte sie in seinen Augen ihr erwärmendes Lächeln. Das Lächeln, das Erhardt immer so rührte und in dem er immer von Neuem die Rosa erkannte, deren Herz er vor fast fünfzig Jahren erobert und die dieses lange, leise Leben mit allen Schönheiten und Bürden mit ihm mitgetragen hatte.

     Unvorstellbar, dass sie ab morgen weg sein sollte, dass es ein Nach-Ihr geben sollte. Dabei hatten sie noch an Silvester auf Gesundheit und Glück angestossen, nicht ahnend, dass Rosas Bauchspeicherdrüse schon damals unumkehrbare Wucherungen aufwies. Sogar Stephan hatte sich seit Jahren wieder einmal die Zeit nehmen können, um gemeinsam den Übergang in ein neues Jahr zu feiern. Er musste auch heute Zeit haben. Er würde ihn bei seiner Ankunft im Spital nochmals anrufen müssen.

     Da durchfuhr ein plötzlicher Ruck das Tram. Erhardts Rücken empörte sich. Wildes Gebimmel. Menschen hielten sich erschrocken fest. Und wie Erhardt sich wieder aufrichtete und zumindest sein körperlicher Schmerz langsam abklang, rückte er behutsam die Tasche auf dem Fensterplatz neben sich zurecht. Seine von den Jahren gezeichnete Hand mit dem schweren goldenen Ring strich zärtlich über die weichen weinroten Fasern. Und für den Bruchteil eines Augenblicks verflüchtigte sich das trübe Geschehen um ihn herum und sie sass da auf dem Platz neben ihm – diesen Platz, den Erhardt so offensichtlich brauchte. Die bunte Schar an Passanten und die melancholische Helvetia hinter den Scheiben verschwammen. Die Scheibe selbst und der gedrängt volle Schlauch des Trams, wo sich soeben ein rotblondes Mädchen mit dezidierter Höflichkeit den Weg zum Ausgang freischaufelte, lösten sich auf.

            Was blieb, war Rosa und der stahlblaue Himmel des frischen, strahlend hellen Tages. Dicht eingemummelt in die weinrote Decke sass sie auf der Veranda ihres gemeinsamen Hauses und Erhardt sass bei ihr und hielt ihre Hand durch den filzigen Stoff, wie er es viel zu selten getan hatte. Doch nun weitete sich sein Herz in seiner zitternden Brust und pumpte kraftvoll, als wollte es den Augenblick in sich aufsaugen. Eben hatte Rosa sich noch über den Garten hinweg in die Ferne geträumt. Jetzt schaute sie ihn an, lächelte wissend, lächelte dankbar und verblasste, als das Tram nochmals Fahrt aufnahm. Die Geräusche, Farben und Gerüche des heranbrechenden Basler Wochenendes kehrten zurück. Jeden Moment würde das Tram die Haltestelle am Ende der Mittleren Brücke erreichen, die nun unweit vor ihm lag. Sein Telefon vibrierte. Beherzt fasste er sich an die noch immer zitternde Brust und nahm den eingehenden Anruf entgegen.


Teil 4 - Leonie folgt am Samstag, 24. Mai.




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