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Mittlere Brücke - Teil 4 von 7 - Leonie

  • Samuel Tscharner
  • 24. Mai
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 5 Tagen


BILD_Titelbild_Mittlere Brücke




4

 


Leonie spähte über das Brückengeländer zum Kreuzfahrtschiff, das an der Schifflände auf seine Passagiere wartete. Rheinabwärts jenseits der Johanniterbrücke lagen sogar noch zwei vor Anker.  Einfach Wegfahren wäre wunderbar.

     «Also, Warteck ist endgültig die beste Option! Bei allen anderen Locations waren wir schon tausendmal!», tat Elin ihren fünften Entschluss der letzten zehn Minuten kund und das wie immer zu schrill, «Schau dir diese geilen Bilder an!», sie swipte auf ihrem Handy herum und streckte es den anderen beiden über das Fahrrad hinweg entgegen. Im blendenden Sonnenlicht zeigte das Display nicht mehr als dunkle Schatten.

     Schon seit sie zu dritt beim Kollegiengebäude mit ihren Fahrrädern losgelaufen waren, konnten Elin und Olivia sich nicht einigen. Sie hatten gerade die letzte Prüfung des Semesters hinter sich gebracht und wollten diese gebührlich feiern. Nur das Wo entpuppte sich als Streitpunkt. Immerhin Leonies Vorschlag, bei diesem wunderbaren Wetter zuerst an den Rhein zu gehen, stiess auf ungeteilte Zustimmung.

     Olivia zog eine Schnute und klappte mit der freien Hand die Sonnenbrille vor die Augen: «Sorry, aber ich bleib dabei. Ich persönlich möchte später ins Verso. Was ist eigentlich mit dir?», sie drehte sich zu Leonie, «Fede ist später sicher auch dort, oder?»

     Leonie zuckte kurz, als sie den Namen hörte. Gerade hatte sie eine Möwe beobachtet, die elegant über die Brücke segelte und zum Landeflug auf einen der weissen Laternenpfähle ansetzte. Eine stattliche Krähe hockte bereits auf ebendiesem Pfahl und liess sich von dem frechen Versuch sie zu vertreiben nicht aus der Ruhe bringen. Unter dem Vogelzwist wankten ein paar Fahnen traurig im Wind.

«Aha! Darum geht es dir!», eine weitere grelle Feststellung von Elin, «Der Typ von letzter Woche!»

     Trotz ihres dunklen süditalienischen Teints sah man, wie Olivia errötete, bevor sie anfing sich babbelnd zu rechtfertigen. Er hätte gesagt, er würde wieder da sein. Er wäre so herzlich zu ihr gewesen und offensichtlich klug. Beim Tanzen hätte sie sich sofort sicher gefühlt in seinen muskulösen Armen. Er könnte sie locker tragen, überall hin, wenn es nötig war. Das sei ihr schon wichtig, aber eigentlich wolle sie ja persönlich nichts anderes als auch so einen liebenswürdigen Freund, wie Fede einer für Leonie sei.

Elin grinste ein breites Grinsekatze-Grinsen, sodass man meinen konnte, ihre Mundwinkel berührten demnächst ihre platinblonden Haarfäden.

     «Alles klar! Alles für die Liebe! Wir gehen ins Verso! Für Liebe, Lachen und Lutschen!», sie wieherte, beschleunigte ihren Gang und schob sich vor Leonie und Olivia, um mit dem Fahrrad an einem Ehepaar mit zwei Kinderwagen vorbeizusteuern.

     Leonie gefiel das gar nicht. Sie wollte nicht ins Verso und vor allem Fede wollte sie nach gestern Abend auf keinen Fall sehen. Ihr Blick schweifte wieder über das Brückengeländer zu den unzähligen bunten Menschengestalten, die sich entlang der Rheinpromenade tummelten. Vielleicht konnten sie sich einfach am Rhein betrinken? Dann könnte sie sich aus dem Staub machen, sobald es ihre Freundinnen in die Partyhöllen zerrte.

     «Schaut einmal die ganzen Leute!», Leonie klang – so gut es ging – begeistert, «bei dem Wetter ist schon hier viel los!»

«Yee-hes!, jauchzte Elin triumphierend und noch etwas lauter als sonst, «FREIHEIT, Baby!»

     «Stellen wir die Fahrräder bei der Wild-Ma-Unterführung ab? Dann können wir danach kurz rüber zum Coop die Getränke holen.», schlug Olivia vor.

     Niemand wandte etwas dagegen ein. Auf der anderen Strassenseite stand eine Menschentraube vor dem Käppelijoch und verdeckte das Schloss, das Leonie mit Fede dort aufgehangen hatte.  Drei oder vier Wochen war das erst her. Damals pustete sie sich noch in die Hände vor Kälte – das Schloss war kalt gewesen – und trotzdem spielte die Frau mit der Handorgel so virtuos wie gerade. Leonie liess ihren Blick wieder in die Ferne schweben, wie um Abstand von sich selbst zu gewinnen. Hier draussen war es so sonnig hell und in ihr wiederholten sich dunkel die Geschehnisse des gestrigen Abends, wie auf einer gesprungenen Schallplatte. Während Elin gerade dazu ansetzte, Olivia über ihren neuen Typen auszuquetschen, hoffte sie inständig, der Tränenspiegel über ihrer Hornhaut würde nicht bersten.

     Vielleicht hätte sie entschiedener sein sollen. Er hätte sich sicher zurückgenommen, wenn sie ihr Befinden deutlicher ausgedrückt hätte. Doch er war so übellaunig an dem Abend. Sie wollte nicht, dass er sich zurückgestossen fühlte. Sie liebte ihn und wollte Zeit mit ihm verbringen. Sie war nervös wegen der Prüfung und ohnehin innerlich beschäftigt, weil ihre Eltern ihr letztes Wochenende eröffnet hatten, dass es zunehmend schwierig werde, ihr Studium zu finanzieren. Doch nachdem sie Fede sagte, dass ihr heute nicht danach sei, schien er sich von ihr zu entfernen. Er sollte nicht denken, dass sie ihn nicht liebte, und vor allem wollte sie nicht allein sein. Sie brauchte jemanden, der sie liebte. Also hatte sie nichts mehr gesagt, als er sie nach dem Film erneut berührte und zu küssen anfing. Sie drehte sich zuerst zwar ein bisschen weg, hielt seine Hand leicht fest und schob sie fort, aber sagte nichts. Und er verstand nicht.  

     Seither quälte sie ununterbrochen dieser Schmerz. Kein körperlicher Schmerz, Fede war zärtlich gewesen wie immer, sofern man mit einem Sexspielzeug zärtlich sein kann. Vielmehr schmerzte sie die Einsicht, dass Fede sie nicht liebte, dass man sie nicht erkannte, nicht einmal wahrnahm und sie ihr Leben allein bestreiten musste.

     «Leonie? Alles klar?», fragte Elin bestürzt.

Sie hatten ihre Fahrräder vom Trottoir auf die Strasse gelenkt und steuerten quer in Richtung Rheingasse.

     «Hey, hey. Was ist los?», tröstete Olivia.

Beide schauten betroffen auf ihre Freundin.  Erst jetzt bemerkte Leonie, dass der Spiegel zerbrochen war. Sie schniefte und Tränen liefen ihr über die Wangen.

            Da gellte urplötzlich die eiserne Klingel eines Trams, das direkt auf sie zuhielt. Elin fluchte, Olivia kreischte auf, und Leonie verlor komplett die Fassung, als alle drei aus der Fahrbahn hetzten. Nun weinte Leonie ungehemmt und ihre Freundinnen legten ihre Arme um sie. Übelkeit und ein heisses Schaudern überfielen sie. Was sollte sie jetzt bloss sagen?




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