Mittlere Brücke - Teil 7 von 7 - Karin
- Samuel Tscharner
- 6. Juli
- 4 Min. Lesezeit

7
Karin musste kurz absitzen. Behutsam stützte sie sich ab, um sich auf die Steinbank niederzulassen. Die Bischofskulptur, die gegenüber auf dem Käppelijoch thronte, schaute ihr geduldig dabei zu. Es war Zeit für eine kleine Verschnaufpause.
Die linke Hüfte tat wieder weh, ihre Knie protestierten und sogar ihr Arm schien beim Stützen ihres Körpers zu ächzen, trotz ihres Fliegengewichts. «Ein, zwei Kuchenstücke mehr am Tag könntest du schon vertragen», hatte Holger immer gemeint, als er noch wöchentlich mit dem üblichen Tirolercake zum Besuch aufkreuzte.
Im Alter fehlte einem eben ab und zu der Appetit und Einkäufe erledigten sich nicht mehr so rasch. Schnell über die Brücke für ein Geschenk oder fehlende Zutaten lag nicht mehr drin. Aber Karin hatte es nicht eilig, im Gegenteil.
Sie spazierte sowieso fast jeden Tag über die Mittlere oder vielleicht fast jeden zweiten. Sonst fiel einem irgendwann die Decke auf den Kopf.
Sie genoss die frische Luft und heute strich diese sanft durch ihre ausgedünnten weissen Haare und kühl über die Kopfhaut, wie damals in ihrer Jugend, als sie durch die Hügel und Wälder zwischen Bottmingen und Schönenbuch geritten war. Onkel Otto besass seinerzeit einen Pferdehof; ein hässliches Gebilde mit einem Stall aus ergrauten, morschen Brettern. Karin hielt sich nur ungern dort auf. Es stank und die Scharniere der Türen und Fensterläden knarrten, dass einem der Schauer über den Rücken lief. Also holte sie stets zügig ein Pferd aus dem Stall und ritt hinaus. Die Pferde bewegten sich prachtvoll und die Gegend zum Ausreiten erstreckte sich zauberhaft in eine unkenntliche dunstige Ferne. Wie eine Fürstin kam sie sich damals vor und ihr Leben war gut.
Auch heute war ihr Leben gut – eigentlich. Vielleicht langweilte sie sich manchmal ein bisschen, seit Holger mit Naledi samt Kinder und Kegel letztes Jahr ausgewandert war. Umso mehr schätzte sie die Gesellschaft, die lebhaft vor ihr vorüberpendelte.
Ihr kam es vor wie gestern, als man die Brücke für die Autos sperrte und die Gehsteige verbreiterte. Seither und vor allem seit letztem Jahr kam sie gerne auf die Brücke und schaute den Leuten zu; Eltern mit Kindern und Einkaufstaschen, eine Fremdenführerin mit Reisegruppe, talentierte und weniger talentierte Strassenmusiker, schlendernde Liebespaare, junge Kerle mit Bieren und diesen handgrossen Lautsprechern, die seit ein paar Jahren überall dieses Hip-Hop spielten, ausgelassene Studentinnen mit grossen Rücksäcken, Menschen mit und auf Fahrrädern, oder gehetzt und gestriegelte Geschäftsleute im Anzug. Hier über dem grössten Fluss der Schweiz, am Übergang zwischen der Gasse des Wilden Mannes und dem ehemaligen Tor des Lällenkönigs wuselte das Leben. Und Karin hockte auf dem frösteligen, grauweissen Steinbänkchen mittendrin und kam sich im Moment dennoch weit entfernt vor.
Über Basel spannte sich ein glasiges, weites Blau. Einzig ein feines Wölkchen klammerte sich einsam an den Münsterturm, als wolle es seiner unumgänglichen Versenkung in der Tiefe des Himmels entgehen. Die Vögel glitten von dort herab auf das farbenreiche Ziegeldach des Käppelijochs, das trüb in der Sonne glänzte.
Ob der Himmel über Botswana ebenfalls so blass blau poliert ist?
Karin vermochte nicht, es sich vorzustellen. Wenn sie eingewilligt hätte, die Familie zu begleiten, dann wüsste sie jetzt, wie der Himmel über Botswana aussieht.
Als Naledi den Ruf an die Universität in Gaborone erhielt und Holger seine Stelle beim Stromwerk bereits aufgegeben hatte, hing die Frage im Raum, wie ein schwerer Eiseneimer im Brunnen. Mitgehen oder bleiben; Wie sollte ihr Leben verlaufen? An jenem Nachmittag verwandelte diese Frage ihr altvertrautes Wohnzimmer mit dem gerade neu gekauften Tisch und den holzigen Stühlen für einige Minuten in einen abgeschotteten Brunnenschacht und sie musste entscheiden, ob sie sich hinaufziehen lassen wollte, hinauf nach Botswana. Ihr neues Wohnhaus biete mehr als genug Platz für sie alle, beteuerten ihr Sohn und seine Frau nicht nur einmal seit der Offenbarung ihres geplanten Exodus.
Verhalten schüttelte Karin den Kopf. Man sollte die Schwermut nicht sehen, die sie seit diesem Angebot dann und wann ergriff. Weshalb sollte sie wegziehen wollen? Das Leben hier war eigentlich doch gut so.
Hier musste sie nie nach dem Weg fragen, und wenn, sprach sie wenigstens die passende Sprache. Sie kannte den Weg zum Laden und fand darin die Milch, das Brot, die Äpfel und den Käse stets an dem Ort, wo sie hingehörten. Und natürlich gab es hier auch ihre Lieblingskekse – die neuen, denn die vorherigen verkaufte der Laden schon eine Weile nicht mehr. Diese Kekse hatten ihr heute den nötigen Schupf gegeben, sich an die frische Luft zu wagen. Und auch Nia und Botho liebten diese Kekse, und bettelten immer danach, wenn sie ihre Grossmutter besuchten.
Ob das so bleiben würde? Nächstes Mal würden sie sicher schon viel grösser sein. Wenn es überhaupt ein nächstes Mal gab.
Doch daran wollte Karin nicht denken. Wehleidigkeit ist keine Tugend. Wieder lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf das Treiben auf der Brücke, den Bischof und die Krähen auf dem Käppelijoch, das Tram, das grummelnd vorbeizog und den blauen Himmel, der das kleine Wölkchen nun verschlungen hatte.
Während ihrer Lebzeiten hatte es schon einige Male wuchtig geruckelt. Erst eben noch hatte sie diese schändliche Pandemie überlebt, trotz ihrer hohen Gefährdung. Zwei ihrer letzten Freundinnen hatten weniger Glück gehabt. Oder damals in der Zeit, die sie halb schmerzlich halb belustigt „Epoche der ewigen Rainer-Kämpfe“ nannte, als sie es in einer Schweiz ohne ernstzunehmende Frauenrechte anging, sich von ihrem Mann zu trennen; leid all der eingeforderten Rechtfertigungen für ihr politisches Engagement, ihre Arbeit, ihre Freunde, das Wohl und Unwohl Holgers und letzten Endes ihrer gesamten Lebensführung. Auch dieser schwierige Lebensabschnitt ging vorüber. Sie hatte ihn überstanden. Sie hatte ihn hier überstanden.
Karin begann leicht zu frieren. Die Kälte der Steinbank schwappte über auf ihre Oberschenkel; Das Zeichen weiterzugehen. Vorsichtig kam sie auf die Beine und stellte zufrieden fest, dass die Knie ihren Protest für die nächste Strecke eingestellt hatten. Gemächlich trat sie in den Menschenfluss ein und spazierte ihren Lieblingskeksen entgegen. Sie würde sie bereithalten, wenn ihre Enkel vorbeikamen. Denn hier war ihr Leben gut. Hier war sie zuhause.
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