Gott, Moral und Mutter Erde - Das Konzept der Leiteridee
- Samuel Tscharner
- 25. Okt.
- 12 Min. Lesezeit

Kürzlich las ich eine Kolumne des in der Schweiz beheimateten Philosophen Christian Budnik.[1] In dem gelungenen kurzen Text adressiert Budnik eine allgemeine Verunsicherung und Lähmung angesichts der krisengeplagten Weltlage. Als kleinen Lichtblick bietet er seine Gewissheit darüber an, dass es in moralischen Urteilen ein eindeutiges Richtig und Falsch gibt. Er vertritt also, um es im philosophischen Fachjargon zu benennen, die metaethische These des moralischen Realismus.[2] Die oft vernommenen Mutmassungen, wonach Moralurteile eine subjektive Angelegenheit seien – sozusagen eine Frage des persönlichen Empfindens und des Geschmacks –, die jeder Mensch selbst für sich entscheiden müsse, widersprächen der Idee von Moral grundsätzlich. Eine private Moral sei ein Oxymoron. Moral gehe immer uns alle an. Wichtig sei es lediglich sich philosophisch zu betätigen, die eigenen moralischen Urteile zu begründen und sich vermehrt über diese auszutauschen, ja zu streiten. Dadurch werde zwar die Welt nicht unmittelbar besser. Aber wenn wir nicht über Moral sprechen und einfach davon ausgehen, dass jeder für sich selbst entscheiden muss, was richtig und was falsch ist, dann versinken wir in einer passiven Haltung der Ohnmacht. Demnach soll der moralische Realismus uns darin bestärken, dass unsere moralischen Urteile über die Vorgänge in der Welt bedeutsam sind und womöglich sogar einen Unterschied machen können.
Ich habe grosse Sympathien für das generelle Anliegen, das Budnik in seinem Text zum Ausdruck bringt. Die Idee des moralischen Realismus erfüllt eine essenzielle Funktion im menschlichen Zusammenleben. Deshalb sollten wir unbedingt daran festhalten und uns Budniks Ratschlag zu Herzen nehmen. Allerdings stimme ich ihm in einem Detail nicht zu und denke, dass sich genau an diesem Divergenzpunkt ein Erkenntnispotenzial auftut. In diesem Essay soll dieses Erkenntnispotenzial freigelegt werden.
Dazu werde ich zuerst aufzeigen, dass Budniks Annahme eines moralischen Realismus keineswegs unbestreitbar ist. In Wahrheit besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die These falsch ist. In einem zweiten Schritt argumentiere ich, dass die These trotz ihrer mutmasslichen Falschheit eine zentrale Funktion für das menschliche Zusammenleben erfüllen kann. Darauffolgend führe ich das Konzept der Leiterideen ein und lege dar, dass der moralische Realismus zusammen mit vielen weiteren bekannten Ideen zu dieser speziellen Gattung der Ideen gehört. Ich schliesse mit Bemerkungen zur aktuellen und generellen Relevanz von Leiterideen sowie Fragen, die in diesem Essay offenbleiben müssen.
Zweifel am moralischen Realismus
Es ist keineswegs selbstverständlich, dass der moralische Realismus wahr ist und es tatsächlich ein für alle gleichermassen geltendes Richtig und Falsch in moralischen Belangen gibt.[3] Im Gegenteil: Die Ahnung, dass moralische Urteile in erster Linie unsere subjektiven Interessen und Befindlichkeiten widerspiegeln, schwelt schon lange im kollektiven Bewusstsein der aufgeklärten Welt. Einer der berühmtesten Philosophen, der Gedanken in diese Richtung ausformuliert hat, war David Hume in seinem Traktat über die menschliche Natur von 1739:
«Diese Überlegungen nun beweisen […], dass Sittlichkeit auch nicht in irgend einer Tatsache besteht, die durch den Verstand erkannt werden kann. […]Ich denke etwa an den absichtlichen Mord. Betrachtet denselben von allen Seiten und seht zu, ob Ihr das tatsächliche oder realiter Existierende finden könnt, was Ihr Laster nennt. Wie Ihr das Ding auch ansehen möget, Ihr findet nur gewisse Affekte, Motive, Willensentschließungen und Gedanken. Außerdem enthält der Fall nichts Tatsächliches. Das „Laster" entgeht Euch gänzlich, solange Ihr nur den Gegenstand betrachtet. Ihr könnt es nie finden, wofern Ihr nicht Euer Augenmerk auf Euer eigenes Innere richtet, und dort ein Gefühl von Missbilligung entdeckt, das in Euch angesichts dieser Handlung entsteht. Auch dies ist [gewiss] eine Tatsache, aber dieselbe ist Gegenstand des Gefühls, nicht der Vernunft. Sie liegt in Euch selbst, nicht in dem Gegenstand. Erklärt Ihr eine Handlung oder einen Charakter für lasterhaft, so meint Ihr [damit] nichts anderes, als dass Ihr zufolge der Beschaffenheit Eurer Natur ein unmittelbares Bewusstsein oder Gefühl des Tadels bei der Betrachtung 'dieser Handlung oder dieses Charakters habt.»[4]
Wenn wir diese Vermutung ernstnehmen, liegt gleichzeitig die Schlussfolgerung nahe, dass es keine Aufstellung moralischer Urteile geben kann, die für alle Menschen gleichermassen richtig ist. Die breite Skepsis gegenüber der Idee des moralischen Realismus, die Budnik ebenfalls wahrzunehmen scheint, ist im Alltag wahrscheinlich oft auf flüchtige Überlegungen dieser Art zurückzuführen.
Auch in meiner Wahrnehmung ist der Unglaube an moralische Wahrheiten eine äusserst weitverbreitete Position.[5] Die Entzauberung der Welt ist längst von der Profession der Wissenschaft in den gesellschaftlichen Alltag vorgedrungen. Das allgemeine Verständnis für die Wissenschaften mag sich seit Max Weber nicht wesentlich verbessert haben, aber es besteht doch vermehrt ein Anspruch, dass Antworten im öffentlich-gesellschaftlichen Diskurs wissenschaftlich untermauert werden. Wenn aber die Wissenschaft nichts zu den Fragen der Moral – «Was sollen wir tun?» und «Wie sollen wir leben?» – auszusagen vermag[6], dann lässt sich vielleicht gar nichts Sinnvolles dazu sagen. Und so gibt es nahezu keine Diskussion über Moralität ausserhalb des universitären Rahmens, in der nicht zumindest eine teilnehmende Person die Ansicht vorbringt, so etwas wie Moral, Richtig und Falsch, Gut und Böse gebe es überhaupt nicht.
Der moralischen Idee Realität verleihen
Man muss gestehen, dass die skeptische Position gegenüber der Moral nicht völlig unplausibel ist. Moralische Prinzipien stehen offensichtlich nicht eingraviert auf gott- oder naturgegebenen Steintafeln. Sie lassen sich nicht entdecken und beschreiben wie Naturgesetze. Ein primitiver moralischer Realismus vermag der Entzauberung der Welt schlicht nicht standzuhalten.
Allerdings schliesst das nicht aus, dass wir Menschen uns gemeinsam auf grundsätzliche und für alle gleichermassen geltende Regeln des Zusammenlebens einigen könnten. Dass diese moralischen Regeln das Richtige bestimmen, wäre für sich betrachtet, bis zum Moment der Einigung weder wahr noch falsch. Nichtsdestotrotz könnten wir uns theoretisch darauf einigen, dass sie wahr sind und dass es richtig ist, sich nach diesen Regeln zu verhalten. Dadurch brächten wir moralische Prinzipien in die Existenz, die insofern sie akzeptiert und eingehalten werden, beobachtbare und beschreibbare Wirkungen zeigen würden. Nach analogem Vorgehensmuster verleihen wir Papiernoten oder Zahlen auf einem Bildschirm einen Tauschwert, gründen Staaten und Unternehmen, statten Regierungen mit speziellen Befugnissen aus oder schliessen Ehen.
In diesem Sinn können wir konstatieren, dass der moralische Realismus per se zwar falsch sein mag, aber durch unser Zutun wahr gemacht werden kann. Wir können gemeinsam aushandeln, welche moralischen Urteile richtig sind und dadurch können die moralischen Regeln zu sozialen Realitäten avancieren.
Diese Überlegungen kann ein Alltagsskeptiker mitgehen und dennoch darauf beharren, dass es in unserer Zeit in Tat und Wahrheit keine Moral gibt. Man braucht sich nur die unzähligen, unterschiedlichen und unvereinbaren Überzeugungen anzuschauen, die bereits auf engstem Raum aufeinandertreffen. Die sozialen Medien führen uns diese unüberschaubare Pluralität an Werten und Moralvorstellungen tagtäglich vor Augen.[7] Das löst Ängste aus, die zu Schweigen, Vermeidungsverhalten und Isolation, aber auch Wut, Streitereien sowie schrecklichen Konflikten und Verbrechen führen. Mit Blick in die Menschheitsgeschichte lässt sich zudem keine Änderung dieses Umstands erhoffen. Menschen sind sich seit jeher uneinig über alle möglichen Inhalte moralischer Urteile und töten sich dafür mit einer unvergleichlich brutalen Kreativität.
Meines Erachtens ist das eine zu pessimistische Einschätzung unserer Lage – moderne Staaten und die Zusammenarbeit über internationale Organisationen hätten nicht mehrere Jahrzehnte so gut funktioniert, wenn wir uns nicht wiederholt über die Richtigkeit gewisser moralischer Urteile hätten einigen können. Doch selbst wenn die pessimistische Sichtweise stimmte, ist sie dennoch vereinbar mit meiner These, dass der moralische Realismus eine essenzielle Rolle für unser Zusammenleben spielt, auch wenn er per se falsch sein sollte.
Daran zu glauben, dass es wahre und falsche moralische Urteile gibt, verleiht uns überhaupt erst den Antrieb, zusammenzukommen und einen Aushandlungsprozess zu starten, welche moralischen Urteile nun wahr und welche moralischen Regeln gültig sind. Exakt das ist der Impuls, den Budnik mit seinem Text zu wecken versucht. Die Idee des moralischen Realismus erfüllt die Funktion, uns mit Hoffnung über eine mögliche Einigung zu den allgemeingültigen Regeln des Zusammenlebens zu erfüllen. Darin steckt deutlich mehr, als der naive Glaube an unbedingte moralische Wahrheiten. Im Endeffekt steckt darin die Hoffnung auf eine Zukunft, in der alle die gleichen moralischen Regeln anerkennen, ihnen dadurch Wahrheit und Wirkungskräfte einhauchen und somit eine Welt ohne Konflikte erschaffen.
«Ein naiver Traum!» mögen die pessimistischen Skeptiker aufschreien. Trotzdem existiert kein Beweis gegen die Möglichkeit einer solch goldenen Zukunft. Tatsächlich bedeutete ihre Position zu akzeptieren und den moralischen Realismus ein für alle Mal zu verwerfen auch gleichzeitig jede Wahrscheinlichkeit für ein solches Friedensszenario fahrenzulassen. Erst das Festhalten an der Idee schafft überhaupt die Möglichkeit, einen solchen Zustand irgendwann zu erreichen.
Das Konzept der Leiteridee
Damit verdeutlicht sich, dass der moralische Realismus einer Gattung von Ideen angehört, die ich als «Leiterideen» bezeichnen möchte. Der Name ist angelehnt an die berühmte Leitermetapher in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus:
«6.54 Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)
Er muss die Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.»[8]
Leiterideen zeichnen sich einerseits dadurch aus, dass sie sich bei durchdringlicher naturalistischer Betrachtung als falsch oder höchstwahrscheinlich falsch erweisen; Sie entsprechen nichts, was wissenschaftliche Methoden als Wirklichkeit erfassen könnten. Andererseits erfüllen sie eine sozialpraktische Funktion: Sie helfen uns zu kooperieren, unser Zusammenleben friedfertig zu gestalten und teilweise sogar die menschliche Gesellschaft als Ganzes zu erhalten. Sie fungieren als Werkzeug, wie eine Leiter, um gesellschaftliches Zusammenleben zu organisieren. Das schliesst nicht aus, dass sie – wie jedes Werkzeug – auch missbräuchlich verwendet werden können.
Solche Leiterideen sind nichts Aussergewöhnliches. Helden- und Gottesideen sind ein hervorragendes Beispiel. Sie dienten uns als Vorbilder und Abschreckung, hielten uns an, unseren Charakter zu reflektieren und uns tugendhaft zu verhalten. Gleichzeitig wurden sie herbeigezogen, um weltliche Vorgänge zu (v)erklären und ungerechte soziale Ordnungen zu legitimieren, beispielsweise feudale Herrschaft und die Unterdrückung der Frau.
Es war vermutlich Immanuel Kant in seiner Religionsschrift, der in einer langen verklausulierten Fussnote die Idee Gottes das erste Mal als Leiteridee identifizierte und mir das pragmatische Potenzial von Ideen für immer im Gedächtnis festsetzte.[9] Darin stellt er fest, dass es eine «unvermeidliche Einschränkung» des Menschen sei, «sich bei allen Handlungen nach dem Erfolg aus denselben umzusehen, um in diesem etwas aufzufinden, was zum Zweck für ihn dienen […] könnte». Der Endzweck des Menschen, d.i. sein höchster «Gegenstand der Zuneigung», sei allerdings die Glückseligkeit. Dummerweise folge die Glückseligkeit nicht aus der Moral und das vernunftbestimmte moralische Gesetz – an dessen reale Existenz Kant klarerweise glaubte – gebiete Handlungen sogar dann, wenn diese der eigenen Glückseligkeit zuwiderlaufen. Daher brauche es die Idee eines Gottes, die uns dabei helfe, dem moralische Gesetz zu gehorchen; Gott garantiert uns die Glückseligkeit, wenn wir dem moralischen Gesetz gehorchen und damit «der Glückseligkeit würdig werden».[10]
An der Beobachtung Kants, dass die Idee eines Gottes uns motiviert, unsere Tugenden und Sittlichkeit zu kultivieren, könnte auch historisch etwas dran sein. Denn genauso wie Gott im Laufe der Aufklärung gestorben ist, wie der tolle Mensch bei Nietzsche proklamierte[11], genauso siechte auch die Relevanz der Tugendethik bis heute dahin – ein Umstand, den beispielsweise die britische Philosophin Elisabeth Anscombe in ihrem Aufsatz Modern Moral Philosophy monierte.[12]
Weitere Beispiele für uralte Leiterideen, die heute erneut eine grosse Bedeutsamkeit erlangen könnten, sind Ideen der belebten Natur – von beseelten und lebendigen Wäldern, Flüssen, Seen, Bergen und anderen Landschaftsformen, Biotopen und Naturgegenständen, die als Mitwesen betrachtet und respektiert werden. Auch die Idee der Schöpfung, als ein wertvolles Geschenk, für das es Sorge und Verantwortung zu tragen gilt, könnte in diese Kategorie fallen. Ein zeitgenössischer Vertreter solcher Ideen der belebten Natur ist der britische Autor Robert MacFarlane. In seinem neusten Buch «Is a River Alive?» macht er die Idee stark, dass Flüsse lebendig sind.[13] Obschon man bei kritisch-rationaler Betrachtung nicht aufrichtig überzeugt sein mag, dass Flüsse und andere Biotope tatsächlich als Lebewesen im naturwissenschaftlichen Sinn gelten können, so lohnt es sich womöglich, die Ideen trotzdem zu akzeptieren, um an ihnen wie an einer Leiter emporzusteigen und einen besseren, respektvolleren Umgang mit unserer Umwelt zu finden.
Wie bereits dargelegt, verhält es sich ebenso mit der Idee der Moral. Selbst wenn unsere kritische Intuition uns zweifeln lässt, dass es moralische Wahrheiten gibt, die diktieren, ob unsere moralischen Urteile richtig oder falsch sind; die Idee des Realitätsbezugs moralischer Urteile lässt sich dennoch als Leiteridee nutzen. Sie bildet die Basis, um gemeinsam, im argumentativen Austausch auszuhandeln, welche moralischen Urteile wir als Wahrheiten anerkennen sollten. Es ist ebendiese Leiterfunktion des moralischen Realismus, die Budnik in seinem Text zu aktivieren versucht.
Die aktuelle Relevanz der Leiterideen
Wie bereits zu Anfang erwähnt, halte ich es für das gesellschaftliche Zusammenleben für essenziell, an der Idee des moralischen Realismus festzuhalten – ihrer wahrscheinlichen Falschheit zum Trotz. Die «Ermordung Gottes» mag lediglich zur Bedeutungslosigkeit der Tugendethik geführt haben. Das ist zwar eine bedauerliche Entwicklung, die nicht spurlos an der modernen Gesellschaft vorübergezogen ist. Dennoch haben wir sie gesellschaftlich verkraftet. Ich fürchte allerdings, dass ein Verscharren der Moral gleichzeitig jegliche Grundlage der modernen Gesellschaft untergräbt. Wo die Regeln des Zusammenlebens als bedeutungslos gebrandmarkt werden, geht das Zusammenleben in Flammen auf.
Ähnliches können wir derzeit im Bereich des internationalen Rechts beobachten: Ein Konglomerat aus Leiterideen wie den Menschenrechten und minimalen humanitären Rechten, der souveränen Gleichheit aller Staaten und der Gültigkeit einer verbindlichen supranationalen Gesetzesordnung wird zusehends in den Wind geschlagen und der Frieden zwischen den Staaten beginnt zu bröckeln.[14]
Das Potenzial der Leiteridee und offene Fragen
Das Konzept der Leiterideen birgt grosses Potenzial. Leiterideen lassen uns verstehen, dass Ideen ein Wert zukommen kann, der über ihren Wahrheitswert hinausgeht. Sie können von Nutzen sein, selbst wenn sie falsch sind. Nicht nur das: Erst die Akzeptanz der (an sich falschen) Leiteridee befähigt uns, den Zustand herzustellen und Wahrheit werden zu lassen, den die Idee selbst beschreibt oder bewirken wollte. Leiterideen verdeutlichen uns somit die Komplexität ethischer, sozialer oder politischer Problemstellungen: Wir sind selbst stets Teil der Problemstellung. Die Beschreibung oder vorgeschlagene Lösung für ein solches Problem wirken auf den betreffenden Sachverhalt ein (von dem die Menschen, welche die Beschreibungen und Lösungen liefern, wiederum ein Teil sind). Dadurch vermögen sie den Sachverhalt mitzuformen, sodass eine zunächst falsche Beschreibung oder Lösung sich schliesslich möglicherweise doch noch als wahr beziehungsweise richtig herauskristallisieren kann.
Allerdings bedarf es noch weiteren gründlichen Untersuchungen, um das Konzept der Leiterideen zu durchdringen. Mindestens zwei weiterführende Fragen müssen an dieser Stelle offenbleiben. Die erste betrifft die theoretische Bestimmung der Leiterideen, die zweite ihre praktische Handhabung.
Bei der theoretischen Bestimmung ist eine Unterteilung der Leiterideen einzufangen und genauer herauszuarbeiten: Gewisse Leiterideen scheinen durch ihren Gebrauch das Potenzial zu besitzen, letztlich zu einer Tatsache zu evolvieren (moralisches Gesetz, Menschenrechte, souveräne Gleichheit aller Staaten). Andere Leiterideen können das nicht (Gottesideen, belebte Natur), was sie nicht notwendigerweise daran hindert ihre Funktion zu erfüllen.
Mit Blick auf die praktische Handhabung tut sich die Frage auf, inwiefern auf die Akzeptanz einer Idee Verlass ist, deren Wahrheitswert von ebendieser Akzeptanz abhängig ist, insbesondere wenn dieser Umstand den Akzeptierenden bewusst ist. Sollte es uns daran gelegen sein, die Richtigkeit der Leiteridee gegen unser besseres Wissen zu propagieren und zum Schluss sogar uns selbst diesbezüglich zu täuschen, in der Hoffnung, dass die Leiteridee so ihre Funktion am effektivsten entfalten kann? Oder ist das Verständnis und Bewusstsein über die Falschheit und Funktionsweisen von Leiterideen gerade ein Schutz vor übermässigen Konflikten, beispielsweise im Bereich der Moralität? Doch hemmt dies nicht im Gegenzug die Funktionalität der Leitideen? Hier stellt sich vermutlich die Aufgabe, einen geeigneten Gleichgewichtspunkt für einen Trade-off zu finden.
Schlusswort
Die offenen Fragen kann ich zu diesem Zeitpunkt und im Rahmen dieses Essays nicht beantworten. Dennoch bestärken mich die hier angeführten Überlegungen darin, den Ratschlag von Budnik anzunehmen und mit meinen Mitmenschen über das Richtig und Falsch meiner und ihrer moralischen Urteile zu diskutieren. So besteige ich die Leiter in der Hoffnung, dass sie sich spätestens, wenn ich oben angekommen bin, unter meinen Füssen manifestiert haben wird.
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Anmerkungen:
[1] Budnik, C. (2025). Es gibt ein Richtig und ein Falsch! In Beobachter, Ausgabe 21/2025, S. 61.
[2] Für eine ausführliche Definition vgl. Foster, J. & Schroeder M. (2023). Defining Moral Realism. In: Bloomfield P. (ed.) & Copp, D. (ed.), The Oxford Handbook of Moral Realism. New York: Oxford University Press. S. 3-17.
[3] Für eine umfangreiche Verteidigung des moralischen Realismus siehe: Shafer-Landau, R. (2003). Moral Realism. A Defence. New York: Oxford University Press.
[4] Hume, D. (1906 [1739]). Traktat über die menschliche Natur. Hamburg: Verlag von Leopold Voss. Buch III: Über die Moral. Erster Teil, Erster Abschnitt, S. 210-211.
[5] Auch Shafer-Landau (2003) beginnt seine Verteidigung des moralischen Realismus mit dieser «lehnstuhl-soziologischen» Einschätzung. Vgl. Fn. 3, S. 1.
[6] Weber, M. (2002 [1919]). Wissenschaft als Beruf. In: Kaesler, D. (Hrsg.), Max Weber: Schriften 1894-1922. Stuttgart: Kröner. S. 474-513.
[7] Schon Max Weber wies darauf hin, und ich paraphrasiere, dass die «verschiedenen Wertordnungen der Welt für alle Zeiten in einem unlöslichen Kampf untereinander stehen». Vgl. Fn. 6: Weber, M. (1919, S. 500-501).
[8] Wittgenstein, L. (2013 [1922]). Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. 34. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 111.
[9] Kant, I. (1868 [1793]). Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft. In: Hartstein, G. (Hrsg.), Immanuel Kant’s Sämmtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Sechster Band. Leipzig: Leopold Voss. S. 100-101.
[10] Bei Kant liest sich die Schlussfolgerung folgendermassen: «Wenn nun aber die strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiführung des höchsten Guts (als Zwecks) gedacht werden soll; so muss, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit, glücklich zu sein, zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht […]». (S. 101)
[11] Nietzsche, F. (2009 [1887]). Die fröhliche Wissenschaft. Drittes Buch, Abschnitt 125: Der tolle Mensch. Köln: Anaconda Verlag. S. 143.
[12] Anscombe, G.E.M. (1958). Modern Moral Philosophy. In Philosophy 33, S. 1-19.
Auch ich habe dazu schon einen Essay geschrieben: Tscharner, S. (2022). Der gute Mensch: Ein Plädoyer für eine Stärkung einer alltäglichen praktischen Tugendethik. In JetztZeit-Magazin (online).
[13] MacFarlane, R. (2025). Is a River Alive? London: Hamish Hamilton.
Siehe auch die Sternstunde Philosophie des Schweizer Radios und Fernsehens (SRF) dazu.
[14] Ein anderer Bereich, in dem vermutlich eine Leiteridee auszumachen ist, die zunehmend wegzubrechen droht, ist die Wissenschaft. Hier ist es die Idee der Wahrheit und der objektiven Erkenntnis, die für alle gleichermassen erreich- und teilbar ist, die in Bedrängnis gerät. Den sich daraus ergebende Konflikt habe ich in einem anderen Essay skizziert: Tscharner, S. (2025). Der Streit um neutrale Wissenschaft. Nachzulesen auf meiner Webseite: https://www.samuel-tscharner.com/post/der-streit-um-neutrale-wissenschaft.


