Der letzte Schmetterling
- Samuel Tscharner
- 27. Jan.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Apr.

Als die letzte Blüte in der Dämmerung starb, sass Rachel daneben und weinte. Das letzte einst kobaltblaue Blatt fiel in einer kühlen Woche des vergehenden Sommers auf die Erde ihres Gartens. Der herannahende Tod hatte es gräulich verfärbt, wie er es auch bei Rachel schon seit mehreren Jahren tat. Sie wusste, der Tag würde kommen, hatte gebangt, es möge nicht geschehen. Doch als es nicht weiter zu leugnen war, wappnete sie sich mit ihrer dunklen Fliesjacke, einer frischen Packung Zigaretten und dem teuren bernsteinfarbenen Sherry, den ihr Mann immer für einen noch besondereren Anlass hatte aufsparen wollen. Damit platzierte sie sich am frühen Nachmittag am alten Holztisch im Garten und begleitete die Blüte beim Sterben.
Am Anfang ihrer Ehe entschieden sie sich für einen Garten. Hannes schmachtete förmlich nach einer auslaugenden Beschäftigung für die Hände neben seiner eintönigen Arbeit beim Amt und Rachel gefiel die Vorstellung eines privaten grünen Fleckchens für erholsame Nachmittage. Nur kurz nach dem gemeinsamen Beschluss, so als hätte das Glück sie belauscht und es gut mit ihnen gemeint, bot jemand in einer Anzeige seinen Garten an und Rachel und Hannes übernahmen ihn mit Freuden. Als sie den Garten das erste Mal betraten, lagen die Beete brach und die dreckigen Sandsteinplatten bildeten eine leere Insel neben einem bescheidenen Häuschen aus marodem Holz. Das Einzige, was darin blühte, war dieses eigenartige Gestrüpp aus blauen Blumen, deren kunstvollen Kelche prachtvoll strotzen. Darum herum vollführten weisse Schmetterlinge ihre Tänze, in dem sie schwirrten, kreisten, sich hoben und senkten, sich hinsetzten und wieder in den Himmel davonflogen.
Zu diesem Zeitpunkt hatten sie beide kaum Notiz davon genommen. Ihr Interesse galt den Visionen für den Ort. Mit viel Schweiss und Schwielen an den Händen kreierten sie in ihrer Freizeit im Laufe der Jahre ihr eigenes kleines Paradies. Der Sandstein glänzte, das Häuschen bekam neue Bretter und einen goldgelben Anstrich. Blumen in verschiedenen Farben säumten die Zäune und in den Beeten gedieh allerlei Gemüse. Sogar ein kleiner Mirabellenbaum kam hinzu. Und mit jedem spriessenden Blatt wuchs auch ihre Innigkeit zueinander. Dabei kam ihnen zu keinem Zeitpunkt die Idee, das Gestrüpp mit den blauen Blumen zu ersetzen. Schon damals gehörten sie irgendwie zu ihrem Rückzugsort und die herumschwirrenden Schmetterlinge verliehen dem Garten eine geradezu märchenhafte Stimmung.
Erst Nadia weckte ihr Bewusstsein für die Blumen. Schon im Kinderwagen frohlockte sie über die Schmetterlinge, wenn sie vor ihrem Babygesichtchen auf und ab tänzelten. Als sie ein bisschen älter war, begann Hannes das Mädchen mit den blauen Blüten zu schmücken. Er strahlte dabei stets über beide Ohren und seine Augen glitzerten liebevoll, wenn er ihr eine der blauen Blumen ums Handgelenk band oder hinters Ohr steckte, woraufhin die Schmetterlinge sie umkreisten und sich auf ihr niederliessen. Nadia staunte, babbelte leise auf die Tierchen ein und lachte entzückt. Am lebendigsten erinnerte sich Rachel an den Moment, als Nadia, die zu der Zeit gerade in schier unglaublichem Tempo das Sprechen lernte, ein wenig unbeholfen versuchte auf einen der umherflitzenden Schmetterlinge zu zeigen und begeistert das Wort «Blume» formte. Hannes lachte herzhaft und bestärkte die Kleine: «Ja genau. Wie fliegende Blumen sind die Schmetterlinge.» Dabei fielen Rachel immer wieder die filigranen rot-orangen Verzierungen der kleinen Flügel auf und beide Eltern wunderten sich, ob sie solche Schmetterlinge ausserhalb ihres Gartens jemals gesehen hatten.
Bald fanden sich beide Blumen, die fliegenden und die blauen, überall auf den Kinderzeichnungen in der Wohnung wieder. Die Blumenarmbändchen begleiteten Nadia regelmässig in den Kindergarten und die Schule. Zudem dekorierte auch Hannes alles mit den blauen Blumen, was für ihn besonders bedeutsam war. Sie zierten die Briefe, die er Rachel manchmal schrieb und immer wieder klemmte er sie in die Rahmen der Fotos auf den Kommoden. Einmal sprangen die beiden mit einem grossen Einmachglas durch den Garten, um einen der Schmetterlinge einzufangen, weil Nadia sie in ihrem ersten Schulreferat vorstellen wollte. Dabei veranstalteten sie ein Heidenspektakel und hielten Rachel von ihrer Vorbereitung auf die Weiterbildungsprüfung ab. Damals schwankte sie zwischen Gereiztheit und glücklicher Zuneigung, heute vermisste sie den Moment schmerzlich. Ein paar Jahre später beobachtete sie ihre Tochter, wie sie verlegen einige der Blumen abzupfte und sich damit davonstahl. Ein paar Wochen später, als der Junge mit ihr Schluss machte, weinte sie in den Armen ihres Vaters bis einer der Schmetterlinge sich direkt vor ihr hinsetzte und ein schüchternes Lächeln in ihr Gesicht zauberte. Und auch später, als die Gespräche zwischen den Eltern und der heranwachsenden Frau schwieriger wurden, brachten die umherfliegenden Sommervögel und der Duft dieser blauen Blumen am wirren Gestrüpp immer wieder eine Harmonie zwischen den Dreien hervor, wenn sie gemeinsam am Holztisch im Garten zu Abend assen.
Eines Nachmittags als Rachel alleine beim Garten ankam, erwischte sie einen älteren Herren, wie er weit über ihren Zaun gelehnt mit grossen Mühen ein Schmetterlingsnetz durch die Luft schwang. Entsetzt stellte sie ihn zur Rede und mit beschwichtigender Gestikulation erklärte der Mann, der sich als Lepidopterologe der Universität vorstellte, dass es sich bei den weissen Schmetterlingen mit den filigranen rot-orangen Zeichnungen, um eine äussert seltene Spezies handle.
«Die sind vom Aussterben bedroht, wissen Sie?», meinte der Schmetterlingskundler, «und am Institut konservieren wir in einer Sammlung alle Insekten, die voraussichtlich in den nächsten Jahren verschwinden werden. So bleibt der Nachwelt sowohl das Wissen über die Artenvielfalt als auch das genetische Material erhalten.»
«Wenn es ohnehin zu wenige dieser Tiere gibt, sollte man sie vielleicht lieber am Leben halten, anstatt sie zu töten und irgendeiner Sammlung beizufügen!», erwiderte Rachel erbost.
«Ich fürchte das Überleben dieses Schmetterlings liegt nicht mehr in unserer Macht. Dafür sind die Veränderungen in seiner Umwelt zu weit fortgeschritten.», erläuterte der Forscher mit kühlem Bedauern. Genau wie ein Arzt, der mit seiner Diagnose ein Todesurteil spricht. Dann machte er sich mit seiner Ausrüstung und den kleinen Faltern, die er bereits vor ihrem Eintreffen gefangen hatte, von dannen.
Wäre Rachel abergläubisch, hätte sie vielleicht geglaubt, der unheilverkündende Wissenschaftler hätte einen Fluch heraufbeschworen. Schon im Jahr, das auf die missliche Begegnung folgte, meinte sie festzustellen, dass weniger weisse Schmetterlinge durch die Luft taumelten. Hannes kam öfters betrübt nachhause. Eintönigkeit und das verdriessliche Arbeitsklima unter dem neuen Chef machten ihm zu schaffen. Die Zeit im Garten munterte ihn auf, ohne sein Leiden je vollständig verdrängen zu können. Und als sie ihm eines Abends einen bescheidenen Strauss seiner liebsten blauen Blumen überreichte, brachen die Tränen aus ihm heraus und als er sie schluchzend an sich drückte, landete behutsam ein Schmetterling auf seiner Schulter, als wolle er ins Trösten mit einstimmen.
Nadia begleitete die beiden mittlerweile kaum noch in den Garten. Die selten gewordenen gemeinsamen Essen wurden leiser, die Abende kühler. An manchem Tagen fehlten die Schmetterlinge nun gänzlich und auch der Duft der Blumen fing an, sich zu verflüchtigten. Wie Rachel gelesen hatte, war das Gestrüpp mit den blauen Kelchen abhängig von diesen Schuppenflüglern, eine «symbiotische Beziehung» nannten es die Bücher. «Fast wie eine Familie mit Garten», sinnierte sie. Doch ihre Tochter war nun eine junge Frau, probierte sich aus, jagte ihre Leidenschaften und schien um keinen Preis ein ähnliches Leben wie ihre Eltern führen zu wollen. So wenig Verständnis sie für ihre Eltern aufbrachte, so unverstanden fühlte sie sich wohl selbst.
Bald waren die fliegenden Blumen verschwunden. Genau wie Nadia, die auszog und fernblieb. Rachel erinnerte sich an den letzten Schmetterling. Es war der Tag, an dem sie ihren Mann endlich überreden konnte, zum Arzt zu gehen. Im Moment, in dem er zustimmte, hüpfte der Falter wie zum Abschied zwischen ihnen auf und ab und entglitt über den Zaun in die Ferne des rot-orangen Abendhimmels. Hannes fühlte sich seit einer Weile öfters krank. Er verlor den Appetit und Gewicht, schlief schlecht trotz ständiger Müdigkeit und erlitt Schwächeanfälle.
«Ich fürchte das Überleben ihres Mannes liegt nicht mehr in unserer Macht. Dafür sind die Veränderungen in seiner Leber zu weit fortgeschritten.», sprach der Arzt seine tödliche Diagnose mit kühlem Bedauern.
Und der Tod kam schnell. Deutlich schneller als bei den Schmetterlingen. Sie pflegte ihn solange sie konnte, besuchte ihn jeden Tag im Krankenhaus, als es zu Ende ging, und brachte ihm seine Lieblingsblumen mit. Die blauen Kelche von dem eigenartigen Gestrüpp. Stets füllten sich seine Augen mit seliger Liebe, die kurz darauf wieder der Erschöpfung und den Tränen der Trauer wich. Nadia hüllte sich vorwiegend in Schweigen, wenn sie vorbeikam. Auch bei der Beerdigung.
Nun war Rachel alleine mit ihrem Sherry und den Zigaretten. Mehrere Monate hatte sie Hannes noch die blauen Blumen aufs Grab gelegt, erinnerte sich dabei an sein warmherziges Lächeln, seine verständnisvollen Augen, und glaubte seine Anwesenheit zu spüren. Doch nun, da die letzte Blüte zu Boden gefallen war, war sie allein. Keine Schmetterlinge, keine blauen Blumen, keinen Mann und keine Tochter und der Garten ergraute und wirkte heruntergekommen, wie sie selbst in diesem Moment.
Gedankenversunken, mit betrübten Sinnen und noch immer schmerzlich schluchzend, überhörte sie die Schritte auf dem Kies und das Quietschen des Türchens und horchte erst auf, als sie die sorgenvolle und ebenfalls in Traurigkeit getränkte Stimme vernahm:
«Mama?»
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