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Mittlere Brücke - Teil 2 von 7 - Chiara

  • Samuel Tscharner
  • 25. Apr.
  • 4 Min. Lesezeit

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2

 


Chiara hastete die Treppe hinauf und ignorierte die ledrigen Schuhe, die sich an ihren Fersen wetzten. Im Kopf spielte sie noch ein weiteres Mal durch, was ihr Coach ihr eingebläut hatte. Dutzende Male hatten sie es geübt, hunderte Male war sie es bereits für sich durchgegangen: Bestimmter Händedruck; guter Augenkontakt; keine Zweifel aufkommen lassen; freundliches Gesicht, aber nur authentisch lächeln; klar und deutlich sprechen, etwas lauter und schneller als sonst, aber kein Nuscheln, keine Relativierung, keine Füllwörter; Stärken und Erfolge bet…

     Ein heftiger Ruck durchfuhr ihre linke Schulter.

     «Oh, sorry!»

     Die Gedankenschlieren klärten sich und gaben ihr Sichtfeld frei. Ein schlaksiger Teenager manifestierte sich in ihrem Augenwinkel und hob entschuldigend die Hände.

     «Mhm», erwiderte Chiara und eilte weiter. Wenn der Junge nichts zu tun hatte, ausser da rumzuhängen, könnte er wenigsten den Erwachsenen nicht im Weg stehen! Aber sie hatte keine Zeit, sich zu ärgern.

     Vor ihr lag die Chance ihres Lebens, der Karrierezug direkt an die Spitze und sie war drauf und dran ihn zu verpassen. 

     Die Sonne blendete und brannte auf ihrem Gesicht. Vorhin im Schatten zwischen den Häusern hatte sie noch gefroren. Jetzt perlte unter ihrem Blazer der Schweiss über ihren Rücken, sammelte sich am BH und griff klebrig nach ihrer Bluse. Mit der rechten Hand beschirmte sie ihre Augen. Die ausgelassenen Menschen erschienen ihr wie träge Schemen in der prallen Sonne, die letzten Hindernisse vor ihrem Ziel, an denen sie taktisch wie eine Rennfahrerin vorbeizog.

     Selbstverständlich musste das Wetter genau heute den Sommer einläuten und ihr halb Basel auf die Brücke stellen, um ihr im Weg zu stehen. Und selbstverständlich musste Janine auch genau heute wieder einen ihrer Tobsuchtsanfälle an den Tag legen und sie in einen Streit verwickeln.

     Sie kam sich vor, als würde die Welt ihr ins Gesicht leuchten und schreien: «Keinen Schritt weiter! Sie sind zum Scheitern verurteilt!»

     Doch von Selbstmitleid konnte sie sich jetzt nichts kaufen. Sobald sie angekommen war, nach einem festen Händedruck und ein, zwei charmanten Floskeln, würde sie wieder in ihrem Element sein. Ihre Erfolge sprachen für sich. Von zehn ihr anvertrauten Portfolios hatten sieben überperformt, zwei ihre Benchmark problemlos erfüllt und nur eines leicht unterdurchschnittlich abgeschnitten. Aber in den letzten Jahren hatten alle den politischen und unternehmerischen Willen zur Nachhaltigkeit überschätzt; bedauerlicherweise, selbstverständlich.

     «Du musst wohl immer alles haben!», überfiel sie Janines Echo aus jenem Teil des Unterbewusstseins, wo Chiara die pendenten Probleme einstellte, für die noch ein passender Termin gefunden werden musste. Die Stimme stolperte und krächzte, weil sie so schluchzte: «Ich werde das nicht alleine machen und meine Arbeit dafür hintenanstellen! Die ist nämlich genauso wichtig wie deine! Wir hatten uns gemeinsam zu diesem Schritt entschlossen!»

     Das gerötete Gesicht von Janine mit den feuchten Augen unter den dunkelblonden Engelslocken flimmerte in ihren Erinnerungen auf. Das Gesicht eines quengelnden, unverständigen Kindes, das unbedingt selbst ein Kind haben wollte.

     Chiara schnaubte genervt und fokussierte sich auf das Problem, das bereits einen Termin hatte. Es begann sich vor ihr anzubahnen: Ein Ehepaar mit zwei Kinderwagen kam ihr entgegen und wurden von einer Gruppe tratschender Studentinnen eingeholt, die ihre Fahrräder spazieren führten und sich gemütlich an den beiden Eltern vorbeischoben. Es gab kein Durchkommen. Eine Wand aus Buggys und Velos rollte auf sie zu.

     Rasch vergewisserte sie sich nicht von hinten angefahren zu werden, wartete einen Velokurier ab, sprang flink auf die Strasse, sodass ihre hohen Absätze gefährlich klackerten und umging geschickt die nächste Hürde auf ihrem Weg.

Anpassungsfähig, lösungsorientiert, risikobereit und beherrscht; Weitere Stärken, die sie beim Vorstellungsgespräch rüberbringen würde. Zudem konnte sie voll und ganz auf ihre Fachkompetenzen vertrauen.

     Sie las Firmenberichte, wie andere Kriminalromane, verstand Geschäftsmodelle instinktiv und wog ihre Schwächen, Risiken, Stärken und Chancen schneller ab als eine Hochpräzisionswaage. Ein Blick auf die Marktbewegungen genügte ihr für eine erste technische Einschätzung von Volatilitäten und Kurszielen. Nach dem Crash 2008 hatte sie insbesondere den Ausbau des Retailmarktes in Europa mitverfolgt und mitgestaltet und obwohl rund ein Viertel aller Projekte im Finanzwesen scheitern, hatte sie noch jedes ihr anvertraute Projekt in trockene Tücher gebracht — und zu klingenden Geldsäckchen gewandelt. Insbesondere als Frau war das kein Zuckerschlecken gewesen und gerade Janine sollte das eigentlich wissen.

     Über Chiara plärrten die Möwen. Jetzt klebte ihr die Bluse am Rücken, sodass ein kühler Luftstoss ihr Gänsehaut beibrachte, während ihr zugleich unangenehm heiss blieb vom Wettlauf gegen die Zeit und der gnadenlosen Frühlingssonne. Etwas weiter vorne, hinter einer weiteren Ansammlung von Menschen reckte die bronzene Frauenstatue ihre Faust in die Luft, so als wollte sie ihr Pferd sicher über die Strasse führen. 

     Genauso führte auch Chiara ihre Projekte; selbstbewusst, stark, seriös, die Zügel fest in der Hand und das Wohl des Pferdes immer im Blick. Das galt sowohl für die Finanzprojekte als auch für das gemeinsame Kinderprojekt. Dass Janine ihr das nicht zutraute…

     In der Menschengruppe vor ihr tat sich eine Lücke auf und Chiara jagte stracks hindurch.

     Niemand hatte gesagt, Janine würde sich alleine um das Kind kümmern müssen! Sie war genauso an diesem Projekt beteiligt und ihm genauso verschrieben wie Janine. Sie war bloss zuversichtlich sowohl im Privatleben als auch in der Karriere einen nächsten Sprung meistern zu können.

     So eine Adoption zog sich hin und bis alles durch war, sässe sie bereits fest im Sattel. Manche Dinge könnte sie von Zuhause erledigen und die Wochenenden gab es auch noch. Doch das Beziehungspferd würde bis am Abend warten müssen. Jetzt musste erstmal das Karrierepferd sicher über die Strasse in den Stall geführt werden.

     Als Chiara die Strasse zur Eisengasse kreuzte, fühlten sich ihre Waden steif an und ihre Fersen mussten mittlerweile blutig sein. «Wortwörtlich Blut, Schweiss und Tränen heute», dachte sie und musste das erste Mal an diesem Tag kurz lachen.


Teil 3 - Erhardt folgt am Samstag, 10. Mai.




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